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Wochenbericht, 27.2. bis 4.3.2012

Standen in den letzten Wochen Syrien und der Iran im Zentrum der Nahostberichterstattung österreichischer Zeitungen, so war in dieser Woche die Türkei das Land, das am öftesten Erwähnung fand. Erstaunlich ist das insofern, als eigentlich über aktuelle Entwicklungen im Lande selbst nur wenig berichtet wurde. Die häufigen Nennungen der Türkei standen vielmehr im Kontext der österreichischen Integrationsdebatte, die durch die Veröffentlichung eines Buches wieder an Schwung gewonnen hat.

Allgemeiner Überblick

Nach zuletzt 242 Beiträgen erschienen in den von MENA systematisch ausgewerteten österreichischen Tageszeitungen in dieser Woche 200 Artikel mit Bezug zum Nahen Osten; das bedeutet im Vergleich zur Vorwoche einen Rückgang der Gesamtzahl um 17,4 Prozent. Die Verteilung der Beiträge auf die einzelnen Medien ergab folgendes Bild:

Wochenbericht, 27.2. bis 4.3.2012

Die entspricht im Großen und Ganzen dem üblichen Verteilungsmuster. Auffällig war in dieser Woche einzig, dass sich an einem Tag (Mittwoch, 29. Feb. 2012) sowohl im Kurier als auch in der Kleinen Zeitung kein einziger Beitrag mit Bezug auf die Region des Nahen Ostens befand. Letztere wiedersetzte sich dennoch dem allgemeinen Trend und hatte mit einem Plus von fast einem Drittel als einzige Zeitung eine Steigerung der Gesamtzahl der relevanten Beiträge zu verzeichnen.

Verteilt auf die einzelnen Länder sah die Berichterstattung der letzten sieben Tage so aus:

Wochenbericht Tabellen - Wochenbericht - 5Mär12 - Tab2

Sehen wir uns wie gewohnt an, welche Themen in der Berichterstattung über die drei am häufigsten genannten Länder eine Rolle spielten.

Türkei

Seit MENA im November letzten Jahres damit begann, österreichische Zeitungen systematisch auszuwerten, ist dies das erste Mal, dass die Türkei das am öftesten genannte Land ist. Das hatte aber, wie anfangs bereits erwähnt, vor allem damit zu tun, dass Inan Türkmen, in Österreich geborener Sohn einer Familie kurdischer Einwanderer aus der Türkei, ein Buch mit dem Titel „Wir kommen“ veröffentlicht hat, dass in allen Zeitungen großen Wellen geschlagen hat. Obwohl Türkmen selbst dies zurückweist (Kleine Zeitung, 4. März 2012), wird sein Buch seitdem häufig als Gegenstück zum umstrittenen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin bezeichnet (Standard, 1. März 2012; Presse, 2. März 2012; Kronen Zeitung, 29. Feb. 2012). Sogar Krone-Hausdichter Wolf Martin fühlte sich durch Türkmens Buch zu folgenden Reimen herausgefordert: „Auf Sarrazins beherztes Buch/schrieb Türkmen eins, als Widerspruch. … Sobald sich Deutschland abgeschafft,/herrscht unumschränkt des Türken Kraft.“ (Kronen Zeitung, 4. März 2012) Türkmen fasst den Grundgedanken seines Buches folgendermaßen zusammen: „Mit ‚Wir kommen‘ meine ich, dass junge türkische, kurdische Immigranten nicht mehr nur Döner verkaufen oder Lebensmittelgeschäfte betreiben, sondern studieren, eine Lehre machen, etwas erreichen werden, und ich meine damit, dass die türkische Wirtschaft boomt.“ (Kleine Zeitung, 4. März 2012) Zusammen mit der zeitgleichen Veröffentlichung einer Studie über mangelnde Integrationsbereitschaft muslimischer Zuwanderer in Deutschland (Presse, 2. März 2012) waren jedenfalls alle Ingredienzien vorhanden, um ausgiebig über die Integration von insbesondere muslimischen Immigranten und deren Nachkommen zu debattieren – kein Wunder also, dass es in 22 der insgesamt 57 Beiträge, in denen die Türkei erwähnt wurde, um die so genannte Integrationsdebatte ging. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei wurden dabei nur am Rande thematisiert, wobei es nicht zuletzt Türkmen selbst war, der öfters auf Probleme des Landes, etwa in Fragen der Pressefreiheit, hinwies, und auch die türkische Regierung kritisierte, der er vorwirft, mit ihrer radikalisierenden Politik die Türkei noch stärker einer islamischen Führung unterwerfen zu wollen. (Kleine Zeitung, 4. März 2012)

Ging es in der Berichterstattung um das aktuelle Geschehen, so fand die Türkei vor allem im Zusammenhang mit drei Themen Erwähnung. Erstens entschied der französische Verfassungsrat, das umstrittene Völkermordleugnungs-Gesetz aufzuheben, das u. a. die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern in der Zeit des Ersten Weltkriegs unter Strafe stellt. Das Gesetz, so die Höchstrichter, sei nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar. Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Türkei waren zuletzt von schweren Turbulenzen beeinträchtigt, nachdem die französische Nationalversammlung und der Senat das Gesetz verabschiedet hatten. (Presse, 29. Feb. 2012) Der armenische Außenminister beklagte derweil im Gespräch mit dem Standard, dass in den türkisch-armenischen Beziehungen momentan nur Rückschritte zu verzeichnen seien, weil die türkische Seite „alles Mögliche“ unternehme, um eine Normalisierung zu verhindern. (Standard, 28. Feb. 2012) Das türkische Innenministerium nahm unterdessen Ermittlungen gegen eine „ultranationalistische Jugendgruppe“ auf, nachdem auf einer ihrer Demonstrationen Hassplakate gegen Armenier zu sehen waren. Pikanterweise gehörte der türkische Innenminister selbst zu den Rednern auf der Demonstration. (Standard, 2. März 2012)

Zweitens zündeten bislang Unbekannte am vergangenen Donnerstag in Istanbul einen Sprengsatz bei einem Anschlag, der offenbar gegen einen Bus gerichtet war, in dem sich Angehörige einer Spezialeinheit der Polizei befanden. 16 Menschen wurden bei der Explosion verletzt. Die Attentäter hatten sich für ihren Angriff eine „symbolträchtige Nachbarschaft“ ausgesucht, befand sich der Anschlagsort doch „in unmittelbarer Nähe des Hauptgebäudes der Regierungspartei AKP“. Die Regierung machte die PKK für den Anschlag verantwortlich, Nach einer Phase geheimer Verhandlungen von Regierung und PKK hat sich die Konfrontation seit Mitte des letzten Jahres wieder deutlich verschärft. (Presse, 2. März 2012)

Drittens wurde die Türkei in einer Reihe von aktuellen Wirtschaftsmeldungen erwähnt: Der steirische Anlagenbauer Andritz konnte, u. a. auch wegen seiner Aktivitäten in der Türkei, eine Rekordbilanz präsentieren (Kurier, 2. März 2012), und das Pipeline-Projekt Nabucco, das in der letzten Zeit eine Reihe von Rückschlägen einstecken musste, sieht nach Gesprächen über eine Fusion mit dem türkischen Konkurrenzprojekt Tarnap wieder einen Lichtschein am Ende des Tunnels. (Standard, 29. Feb. 2012; Kurier, 29. Feb. 2012)

Die interessanteste Meldung über die Türkei fand sich freilich in keiner österreichischen Zeitung: WikiLeaks begann diese Woche damit, einige jener rund fünf Millionen Mails zu veröffentlichen, die die Hackergruppe „Anonymous“ der privaten amerikanischen Sicherheitsfirma „Strategic Forecasting“ gestohlen hatte. In einem dieser Mails berichtet „Stratfor“-CEO George Friedman über ein Gespräch, in dem Henry Kissinger ihm von einem Treffen mit dem türkischen Premierminister Erdogan im Februar 2010 erzählte. Demnach habe Erdogan ausgeführt, die Türkei habe den Plan, mit Israel zu brechen und sich in Richtung der islamischen Welt zu orientieren, deren neuer Führer er werden wolle. Nur wenige Monate später kam es zu den dramatischen Zwischenfällen an Bord der „Mavi Marmara“. Das Schiff war Teil einer von türkischen Islamisten organisierten Flotte, die mit dem erklärten Ziel in See gestochen war, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Bei der Stürmung des Schiffes durch die israelische Marine wurden die Soldaten von gewalttätigen Islamisten, die zuvor ihren Willen bekundet hatten, als „Märtyrer“ zu sterben, mit Knüppeln, Eisenstangen und Messern attackiert, und mussten zur Selbstverteidigung zu ihren Pistolen greifen; am Ende des Einsatzes waren neun Türken tot. Welt-Online kommentiert: „Israel hat immer behauptet, dass der Zwischenfall eine sorgfältig geplante, von der türkischen Regierung gutgeheißene und mit ihr koordinierte politische Provokation darstellte.“ Die Türkei hat dagegen immer behauptet, sie habe mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt, und ging ganz offen auf Konfrontationskurs mit Israel. Die Schlussfolgerung von Welt-Online: „Friedmans Bericht (macht), wenn er zutrifft, die israelische Darstellung der Ereignisse sehr viel wahrscheinlicher.“ Die blutige Episode rund um die „Mavi Marmara“ war demnach aus türkischer Sicht „Mittel einer von langer Hand geplanten Hinwendung Erdogans zur islamischen Welt – um, wie zu osmanischen Zeiten, die Türkei zu deren Bannerträger zu machen.“ (Welt-Online, 29. Feb. 2012)

Iran

Das dominierende Thema in der Berichterstattung über das am zweithäufigsten genannte Land, den Iran, waren die Parlamentswahlen vom vergangenen Freitag, die nach einer gründlichen Säuberung der Wahllisten von allen Oppositionellen zu einem „Wettlauf unter Konservativen“ (Presse, 29. Feb. 2012) und endgültig zu einer Farce verkommen sind. Nach ersten Ergebnissen setzte es für die Anhänger des beim obersten geistlichen Führer in Ungnade gefallenen Präsidenten Ahmadinejad die erwartete Niederlage. (Presse, 4. März 2012; Kleine Zeitung, 4. März 2012) Christian Ultsch analysierte in der Presse: „Der loyale Freund von heute kann der Gegner von morgen sein. Das System frisst sich selbst und scheidet dabei ständig ehemalige Gefolgsleute aus. Nach Ex-Präsident Khatami und Ex-Premier Mussawi, dem Anführer der 2009 brutal niedergeschlagenen Reformbewegung, ist jetzt eben Ahmadinejad dran.“ (Presse, 4. März 2012) Die Opposition hatte zum Boykott der Wahlen aufgerufen. (Kurier, 3. März 2012)

Während die Woche in Bezug auf den Streit um das iranische Atomwaffenprogramm vergleichsweise ruhig verlief und alles gespannt auf das heutige Treffen des israelischen Premiers Netanjahu mit US-Präsident Obama wartet, dauerte die vom Atomstreit beförderte Sorge um die Entwicklung des Ölpreises weiter an. Da die Weltwirtschaft sich noch nicht restlos von der Finanzkrise erholt habe, sieht der Internationale Währungsfonds im hohen Ölpreis eine Gefährdung der globalen Konjunktur. (Presse, 27. Feb. 2012) Wie angespannt die Lage ist, wurde deutlich, als Gerüchte über eine Explosion bzw. einen Brand einer saudischen Pipeline den Ölpreis sofort nach oben schießen ließ. (Presse; 3. März 2012; Kurier, 3. März 2012)

Syrien

In Syrien sind die von Diktator Bashar al-Assad eingebrachten Vorschläge zur Änderung der Verfassung bei einem Referendum, wer hätte das gedacht, mit einer großen Mehrheit von über 89 Prozent angenommen worden. (Standard, 28. Feb. 2012) Unterdessen ging das brutale Vorgehen der regimetreuen Sicherheitskräfte unvermindert weiter. Nach fast vier Wochen Dauerbeschuss nahm die Armee jene Teile der Stadt Homs ein, die als Hochburg der Rebellion galten. (Presse, 2. März 2012; Kronen Zeitung, 2. März 2012). Seitdem wird aus der Stadt über Folterungen und willkürliche Exekutionen berichtet. (Standard, 3. März 2012; Presse, 4. März 2012; Kurier, 3. März 2012; Kronen Zeitung, 3. März 2012) Das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die einem Konvoi des Roten Kreuzes den Zugang zur Stadt verweigerten (Presse, 3. März 2012), hatten „scharfe Worte“ von Seiten der Staats- und Regierungschefs der EU zur Folge, die ankündigten, die „Verantwortlichen für die Grausamkeiten zur Rechenschaft“ ziehen zu wollen. Der britische Premier Cameron sprach von einem „kriminellen Regime“, dem das Handwerk gelegt werden müsse. (Standard, 3. März 2012)

All der scharfen Rhetorik zum Trotz zeigen sich weder die EU noch die USA bislang bereit, der syrischen Opposition auf tatkräftigere Weise zur Hilfe zu kommen. Die Begründungen für das Zögern sind mitunter etwas seltsam. So berichtete der Standard: „Die USA lehnen indes Waffenlieferungen an Aufständische ab, weil sie fürchten, dass die Waffen bei Al-Kaida oder der Hamas landen könnten.“ (Standard, 28. Feb. 2012) Demnach wollen die USA also Rebellen nicht unterstützen, die ein Regime zu Fall bringen wollen, das jahrelang einer der wichtigsten Unterstützer der palästinensischen Hamas war und diese mit Geld und Waffen unterstützte – weil die Waffen an die Hamas fallen könnten? Und ist die Gefahr, dass Waffenlieferungen an syrische Rebellen in die Hände der palästinensischen Islamisten fallen könnten, wirklich um so vieles größer als die Gefahr, dass die Hamas an jene Waffen gelangen könnte, mit denen seit Jahren die palästinensischen „Sicherheitskräfte“ der „moderaten“ Fatah im Westjordanland aufgerüstet werden?

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