Wochenbericht, 2.4. bis 8.4.2012

Letzten Mittwoch veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Gedicht des deutschen Literaturnobelpreisträgers Günter Grass mit dem Titel „Was gesagt werden muss“, in dem er Israel scharf attackierte und als Gefährdung des Weltfriedens bezeichnete. Die dadurch ausgelöste und mit einem Tag Verspätung auch in Österreich ausgebrochene Debatte war das beherrschende Thema der Nahostberichterstattung der vergangenen Woche. Sie steht deshalb auch im Zentrum des MENA-Wochenberichts.

Allgemeiner Überblick

In der letzten Woche erschienen in den fünf von MENA ausgewerteten österreichischen Tageszeitungen insgesamt 261 Beiträge mit Bezug zu den Regionen Nordafrika und Naher Osten. Im Vergleich zur Vorwoche war dies eine Steigerung von knapp über zehn Prozent, was angesichts der Osterwoche, in der naheliegender Weise Jerusalem besonders oft erwähnt wird, nicht weiter überraschend ist. Die Verteilung der Artikel auf die verschiedenen Zeitungen unterschied sich allerdings von dem recht konstanten Bild der vergangenen Wochen:

Wochenbericht, 2.4. bis 8.4.2012

Einerseits ist zu sehen, dass der Standard seit längerer Zeit wieder einmal die Zeitung mit den meisten relevanten Beiträgen war; zuletzt war das Ende Februar der Fall. Andererseits fällt auf, dass der Kurier diesmal untypisch wenige Artikel mit Nahostbezug veröffentlichte – die Zahl von 33 Beiträgen lag deutlich unter dem längerfristigen Schnitt von etwas über 46 pro Woche. Ein Grund für das untypische Verteilungsmuster war, dass im Kurier nur vier Artikel zum beherrschenden Thema der Woche, der Grass-Debatte, erschienen. Zum Vergleich: Von den insgesamt 33 in der Kleinen Zeitung veröffentlichten relevanten Beiträgen hatten 13 den Grass-Text und die Reaktionen darauf zum Gegenstand.

Wie dominierend dieses Thema war, lässt sich anhand der folgenden Grafik leicht erschließen:

Wochenbericht Tabellen - Wochenbericht - 9Apr12 - Tab2

Sowohl der überwiegende Teil der 81 Erwähnungen Israels, als auch ein Großteil der 58 Nennungen des Iran waren auf die Grass-Debatte zurückzuführen, der wir jetzt unsere ganze Aufmerksamkeit widmen wollen.

Das „Gedicht“

Wie bereits erwähnt, erschien der Grass-Text mit dem Titel „Was gesagt werden muss“ ursprünglich am 4. April in der Süddeutschen Zeitung. In Österreich wurde es am Tag danach als Faksimile im Standard sowie im Wortlaut in der Kleinen Zeitung veröffentlicht. In der Presse erschien es gleich zweimal in voller Länge: zum ersten Mal ebenfalls am 5. April, zum zweiten Mal in einer kommentierten Form drei Tage später. (Presse, 8. Apr. 2012) Kurier und Kronen Zeitung druckten den Text nicht ab.

Abgesehen von inhaltlichen Einwänden geriet auch die Form des Textes in die Kritik. In der Kleinen Zeitung bezeichnete Werner Krause es als eine „plumpe, billige und auch mutferne Methode“ von Grass, seine „aktuellen Befindlichkeiten als Gedicht auszuweisen“, weil er sich mit dem Verweis auf den poetischen Charakter des Textes vor Kritik immunisieren wolle: „Wie niedrig dies doch ist. Das Einzige, was davon bleibt, das ist die Scheinheiligkeit.“ (Kleine Zeitung, 6. Apr. 2012) Der Kurier urteilte, der Text lese sich „eher wie eine Polemik“ und fand es interessant, dass Grass die Form des Gedichts gewählt habe. Vielleicht, so Guido Tartarotti, werde daraus ja eine Mode. Politiker könnten ihre Vorhaben als Balladen formulieren, Fußballtrainer die Aufstellungen ihrer Mannschaften in Sonettform bekanntgeben. „Die Welt wird so vielleicht nicht ehrlicher, aber poetischer. Die Reime der FPÖ kennend, muss allerdings dazu gesagt werden: Ein Minimum an Deutschkenntnissen ist halt Voraussetzung.“ (Kurier, 8. Apr. 2012)

Allerdings wurde auch die poetische Qualität des Grass-Gedichts in Zweifel gezogen. Kurt Seinitz bezeichnete den Autor in der Kronen Zeitung ob seines „pathetisch-überheblichen Anti-Israel-Wut-Gedichts“ als einen „Wichtigmacher“ und „(p)olitisch dilletierende(n) Künstler“; von dem Text sprach er als einem „holprigen Gstanzl eines ausgebrannten Literaturnobelpreisträgers“. (Kronen Zeitung, 6. Apr. 2012) Noch schärfer formulierte es Michael Jeannée in einem Brief an Grass: Der Dichter Ernest Hemingway habe sich erschossen, als er erkannte, dass ihn seine literarische Kraft verlassen habe. „Als Sie jetzt erkannten, dass Sie ihre literarische Kraft verlassen hat, Sie nicht mehr schreiben können, da griffen Sie zur Feder.“ Der „ehedem wortgewaltige“ Autor würde nun „holprigen und ausgebrannten Stils“ Israel kritisieren. (Ebd.)

Die Behauptungen

Inhaltlich stießen Grass‘ Behauptungen in österreichischen Zeitungen auf einhellige Kritik, die manchmal schärfer, manchmal weniger scharf formuliert wurde. Ausgesprochene Zustimmung gab es für die „neun semidementen Strophen“ (Presse, 8./9. Apr. 2012) des Schriftstellers im Grunde nur in zwei Leserbriefen im Standard bzw. der Kronen Zeitung (Standard, 6. Apr. 2012; Kronen Zeitung, 8. Apr. 2012) Am meisten Widerspruch erregte der „abstruse Vorwurf an Israel, das iranische Volk mit einem atomaren Erstschlag auslöschen zu wollen“, der einfach „haarsträubend falsch“ sei. (Kronen Zeitung, 6. Apr. 2012)

Am ausführlichsten widmete sich die Presse der inhaltlichen Bewertung. Sie veröffentlichte das Gedicht gewissermaßen in einer kommentierten Fassung, in der die groben Fehler und Verzerrungen des Textes aufgezeigt wurden: Israel hat nie damit gedroht, das iranische Volk in einem atomaren Erstschlag auszulöschen; zwar könne man die Drohungen des Iran, den jüdischen Staat vernichten zu wollen, als „leere Drohung“ abtun, doch ist erwiesen, dass „der Iran antiisraelische Terrororganisationen wie die Hisbollah und die Hamas unterstützt“; dass Israel über ein Arsenal an Atomwaffen verfüge, ist keineswegs ein Geheimnis; die von Deutschland an Israel gelieferten U-Boote seien nicht primär Erstschlagswaffen, sondern dienten der Abschreckung. Grundfalsch ist aber vor allem die Behauptung von Grass, „(d)ie Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“, denn damit stellt er die Tatsachen auf den Kopf: „Verursacht wird die Gefahr durch das Atomprogramm, das der Iran trotz sechs UN-Resolutionen nicht offenlegen will. Das sehen nicht nur die Israelis und die arabischen Nachbarn so, sondern auch fast die gesamte internationale Gemeinschaft.“ (Presse, 8./9. Apr. 2012).

Die fast einstimmige Kritik an Grass sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass so mancher seiner Kritiker in Wahrheit von dessen inhaltlichen Positionen gar nicht so weit entfernt ist. Fast scheint es, als hätten sich manche Journalisten so explizit von Grass‘ Angriffen auf Israel distanziert, um diese inhaltliche Nähe zu überdecken. So fühlte sich Hans Rauscher zu folgender Feststellung bemüßigt: „Es gibt allerdings einiges, was zu Israel gesagt werden muss: dass Israel mit seiner Siedlungs- und Besatzungspolitik ins Unheil steuert; oder dass die Angriffspläne der Regierung Netanjahu gegen den Iran an Wahnsinn grenzen.“ Doch müsse das von denen gesagt werden, „die echte Freundschaft und Verantwortung für Israel empfinden.“ (Standard, 6. Apr. 2012) Vermutlich meinte Rauscher damit sich selbst. „Echte Freundschaft“ mit Israel sieht für ihn also so aus, dass er gleich mit einstimmt – „es gibt allerdings einiges, was zu Israel gesagt werden muss“ –, wenn der Dichter gegen den Judenstaat wettert. Macht es für die Israelis da wirklich einen so großen Unterschied, ob ein Grass sie als Gefährder des Weltfriedens bezeichnet, oder ob ein Rauscher ihnen in „echter Freundschaft“ erklärt, dass es an „Wahnsinn“ grenzt, wenn sie den verzweifelten Versuch unternehmen sollten, das iranische Regime vom Griff nach Atomwaffen abzuhalten?

Die Pose

Sorgten die unhaltbaren Behauptungen von Grass für Kritik, so löste die Pose, in der er sie vorbrachte, vielfach Kopfschütteln aus. In den Worten von Christian Ultsch: „Günter Grass verblüfft nicht nur mit seiner Ahnungslosigkeit. Fast mehr noch nervt seine lächerliche Pose als Draufgänger, der es endlich wagt, das Schweigen zu brechen. … Dabei gibt er bloß in Gedichtform wieder, was im Wirtshaus ums Eck geschwätzt wird.“ (Ebd.) Denn dass Israel eine Gefahr für den Weltfrieden sei, diese ach so mutige Meinung teilt Grass einer Umfrage aus dem Jahre 2003 zufolge mit 59 Prozent der Europäer, wobei die Werte für Deutschland mit 66 und Österreich mit 69 Prozent sogar noch weit höher lagen.

Obwohl Grass also bloß etwas sagte, was ohnehin mehr als zwei Drittel der Deutschen und Österreicher teilen, inszeniert er sich gleichsam als großer Tabubrecher und einsamer Mahner in der Wüste. Als ob es dafür eines besonderen Mutes bedürfte, gerierte er sich, als begebe er sich irgendwie in Gefahr, wenn er öffentlich Israel attackiert. Diese Haltung ist freilich alles andere als neu – man erinnere sich nur an Martin Walser, der, nicht weniger pathetisch als heute Grass, 1998 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels „vor Kühnheit zitternd“ gegen die „Moralkeule“ Auschwitz zu Felde zog.

Das wirklich Skandalöse an Grass‘ Pose hat mit seiner Biographie zu tun: Als 17-Jähriger war er Mitglied der Waffen-SS, was er über all die Jahrzehnte hinweg sorgsam verschwieg, in denen er sich als das moralische Gewissen Deutschlands in Szene setzte. Thomas Kramar hielt in der Presse fest: „Wer sich – und sei es auch in seiner Jugend – politisch so geirrt hat, muss sich nicht lebenslang schämen. Aber er soll wenigstens schweigen, wenn es um Themen geht, die mit seiner Schuld zu tun haben. … (A)ls Deutscher, der noch dazu in das für den Holocaust verantwortliche Regime verflochten war, sollte man den Anstand besitzen, besonders behutsam über den Staat zu sprechen, den sich Juden aufgebaut haben. Und auch einmal einfach zu schweigen. Günter Grass hätte schweigen sollen.“ (Presse, 5. Apr. 2012)

Schweigen ist offenkundig nicht, was Grass angesichts des Streits um das iranische Atomprogramm in den Sinn kam. Stattdessen macht er den Israelis Vorschriften darüber, wie diese sich angesichts einer existenziellen Bedrohung zu verhalten hätten, die der deutsche Dichter nicht zur Kenntnis nimmt. 1982 schrieb Wolfgang Pohrt anlässlich des Libanonkrieges: „Mit den Verbrechen, die Deutschland an den Juden und an der Menschheit beging, hat es sich eigenem Selbstverständnis gemäß das Vorrecht, die Auszeichnung und die Ehre erworben, fortan besondere Verantwortung zu tragen. Der Massenmord an den Juden verpflichte, so meint man, Deutschland dazu, Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde. Zwei angezettelte Weltkriege böten, so meint man weiter, die besten Startbedingungen, wenn es um den ersten Platz unter den Weltfriedensrichtern und Weltfriedensstiftern geht — frei nach der jesuitischen Devise, dass nur ein großer Sünder das Zeug zum großen Moralisten habe.“ Im Grunde hat er damit vor dreißig Jahren schon alles gesagt, was es zu Grass zu sagen gibt.

Nachbemerkung: Antisemitismus?

In seinem Gedicht behauptet Grass, dass über israelische Atomwaffen geschwiegen werde, weil man sonst des Antisemitismus beschuldigt würde. Nach Veröffentlichung des Textes wurde Grass tatsächlich als Antisemit bezeichnet: Für Henryk M. Broder sei schon immer klar gewesen, dass Grass ein Problem mit Juden habe. Er sei „der Prototyp des gebildeten Antisemiten“, so das Urteil Broders, dem sich Michel Jeannée in der Kronen Zeitung anschloss. (6. Apr. 2012) Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk bezeichnete Grass als „nicht antisemitischer als üblich, wenn er, wie so häufig, den Juden an allem die Schuld gibt.“ (Kurier, 6. Apr. 12) Aber es gab auch Gegenstimmen: Im Standard beklagte ein Leserbriefschreiber die „künstliche Aufplusterung des jüdischen Zentralrates und anderer jüdischer Gruppen, die über Grass herfallen.“ (Standard, 6. Apr. 2012)

Der Streit über die Frage, ob der Vorwurf des Antisemitismus gerechtfertigt ist, droht einen viel wichtigeren Punkt der Debatte zu überdecken. Mit seinen Äußerungen hat Grass unter Beweis gestellt, dass er entweder von der Realität im Nahen Osten keine Ahnung hat, oder dass er ganz bewusst ein höchst verzerrtes Bild der Lage zeichnet. In beiden Fällen hat er sich als Diskussionsteilnehmer restlos disqualifiziert, weil seine Behauptungen auf einer sachlichen Ebene grundlegend falsch sind. Beide Seiten der Debatte tappen nur allzu oft in die gleiche Falle: Die Kritiker von Grass machen einen Fehler, wenn sie meinen, die Triftigkeit ihrer Kritik hinge davon ab, ob sie ihm Antisemitismus nachweisen können. Umgekehrt machen sich seine Verteidiger lächerlich, wenn sie glauben, Grass‘ Text zu einem irgendwie respektablen und fruchtbaren Diskussionsbeitrag erklären zu können, wenn nur der Vorwurf des Antisemitismus entkräftet werden könnte.

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