Erweiterte Suche

Wochenbericht, 16.2. bis 22.2.2015

In dieser Ausgabe:

I. Allgemeiner Überblick
II. „Israel ist euer Heim“: Aufregung über Netanjahu, Unverständnis über Israel
III. Antisemitismus ist ein Problem der europäischen Gesellschaften, nicht der Juden
 

I. Allgemeiner Überblick

In der vergangenen Woche erschienen in den von MENA systematisch ausgewerteten österreichischen Tageszeitungen 363 Beiträge (zuletzt: 291) mit Bezügen zum Nahen Osten und zu Nordafrika:

Wochenbericht, 16.2. bis 22.2.2015

Folgende Länder standen im Mittelpunkt der Berichterstattung:

Wochenbericht, 16.2. bis 22.2.2015

In den insgesamt 103 relevanten Beiträgen (zuletzt: 94) der wichtigsten Radio- und Fernsehnachrichtensendungen des ORF wurde auf folgende Länder am häufigsten Bezug genommen:

Wochenbericht, 16.2. bis 22.2.2015

II. „Israel ist euer Heim“: Aufregung über Netanjahu, Unverständnis über Israel

Die Terroranschläge von Kopenhagen sowie die Schändungen eines jüdischen Friedhofs in Frankreich waren Anfang vergangener Woche das beherrschende Thema in österreichischen Medien. Für Aufregung sorgte dabei eine Stellungnahme des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu. „Die Juden haben natürlich ein Recht auf Schutz in jedem einzelnen Land“, hatte dieser erklärt, „aber wir sagen den Juden, unseren Brüdern und Schwestern: Israel ist euer Heim.“ (Standard, 16. Feb. 2015) Aus Europa erntete Netanjahu sogleich eine Vielzahl negativer Reaktionen. Spitzenpolitiker aus Deutschland und Frankreich appellierten an die Jüdinnen und Juden, in ihren europäischen Heimatländern zu bleiben. Die deutsche Kanzlerin Merkel sicherte der jüdischen Gemeinde Schutz zu und betonte: „Wie möchten gern mit den Juden, die heute in Deutschland sind, weiter gut zusammenleben. Wir sind froh und auch dankbar, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt.“ Frankreichs Premier Valls verkündete seine „Botschaft an die französischen Juden“: „Frankreich ist verletzt wie Sie und Frankreich möchte nicht, dass Sie gehen.“ Die französischen Juden „gehören nach Frankreich.“ (Presse, 17. Feb. 2015) Österreichs Außenminister Kurz erklärte: „Europa ohne Juden wäre nicht Europa“. Es sei eine „schreckliche Tatsache, dass antisemitische Vorfälle zunehmen“. Hart müsse daran gearbeitet werden, „für Sicherheit zu sorgen, damit Menschen jüdischen Glaubens nicht gezwungen sind, auszuwandern.“ (Salzburger Nachrichten, 17. Feb. 2015) Widerspruch zu Netanjahu kam auch aus den Reihen der betroffenen jüdischen Gemeinden. So meinte der ehemalige Oberrabbiner von Dänemark, Bent Melchior, der israelische Premier habe einen „sehr schlechten Zeitpunkt für seinen Aufruf gewählt“ (ZiB 2, 16. Feb. 2015), die „Aufforderung zur Rücksiedelung“ nach Israel sei „völlig unangebracht“. (Standard, 17. Feb. 2015) Der Kopenhagener Oberrabbiner Yair Melchior meinte: „Terror sollte nicht der Grund für eine Einwanderung in Israel sein.“ (Kurier, 16. Feb. 2015)

Dass derartige Stellungnahmen überhaupt für nötig erachtet werden, wirft ein bezeichnendes Licht auf den antisemitischen Alltag in Teilen Europas, auch wenn dieser nach wie vor mancherorts nicht zur Kenntnis genommen wird. „Netanjahu deutete an, dass Juden in Europa nicht mehr sicher seien“, war etwa auf der Titelseite der Salzburger Nachrichten zu lesen (16. Feb. 2015), so als wären die antisemitischen Terroranschläge der letzten Jahre, von Toulouse über Brüssel und Paris bis nach Kopenhagen, nicht hinreichende Belege für das, was der israelische Premier deutlich auf den Punkt gebracht hatte: „Wieder wurden auf dem Boden Europas Juden ermordet, nur weil sie Juden waren“. (Standard, 16. Feb. 2015)

So mancher Beobachter hierzulande witterte hinter Netanjahus Bemerkungen sinistere Motive. Hans Rauscher, der keine Gelegenheit auslässt, um seiner Antipathie gegenüber dem israelischen Premier Ausdruck zu verleihen, schrieb spöttisch über dessen „Selbsteinladung“ zum Pariser Trauermarsch und darüber, dass Netanjahu „vor einer entscheidenden Wahl“ stehe, im Grunde also bloß billigen Wahlkampf betreibe. (Standard, 17. Feb. 2015) Demselben Motiv war auch Susanne Knaul in der Presse auf der Spur. Unbeirrt von Kritik an seinen Aussagen nutze Netanjahu „die Gunst der Stunde möglicherweise auch zur Mobilisierung für die Parlamentswahlen in einem Monat.“ (Presse, 16. Feb. 2015) Und Susanne Scholl beantwortete die Frage nach den Gründen für Netanjahus Aufruf zur Auswanderung nach Israel mit der Bemerkung: „Ich denke, dass es dabei weniger um die Sicherheit der europäischen Juden als um seine Wiederwahl geht.“ (Salzburger Nachrichten, 17. Feb. 2015)

Im Gegensatz dazu war Norbert Jessen im Kurier der Ansicht, dass all das mit dem Wahlkampf in Israel „wenig zu tun“ habe. (Kurier, 16. Feb. 2015) Dem pflichtete in einem interessanten Interview in der Süddeutschen Zeitung Michael Brenner bei, Historiker und Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München: „Glauben Sie mir, im israelischen Wahlkampf gibt es andere Dinge, die die Menschen mehr berühren als das Schicksal der europäischen Juden. Damit lässt sich keine Wahl gewinnen.“ In weiterer Folge hob Brenner genau das hervor, was in den aufgeregten Zurückweisungen Netanjahus durch europäische Politiker und Journalisten unter den Tisch fiel: „Das Problem ist doch nicht, was Netanjahu sagt, sondern dass die Situation in Europa ihm immer wieder Anlass für diese Worte gibt. Herr Netanjahu käme überhaupt nicht auf die Idee, so etwas in New York oder Washington den amerikanischen Juden vorzuschlagen. Weil es dort keinen Anlass dafür gibt.“ Und Brenner betonte auch, wie sich die Lage im Laufe der vergangenen Jahre verschlechtert habe:

„(N)atürlich überlege ich mir zunehmend, welche Sicherheitsvorkehrungen wir treffen müssen, wenn wir künftig größere Veranstaltungen zu Themen der jüdischen Geschichte oder des Staates Israel abhalten. Wir stehen da auch in einer Verantwortung. Das ist offen gesagt etwas, was ich mir nicht vorstellen konnte, als ich vor 18 Jahren in München den Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur aufbaute, und was mir schon zu denken gibt.“ (Süddeutsche Zeitung, 18. Feb. 2015)

Die Zahlen in den einschlägigen Statistiken sprechen für sich. Allein in Frankreich wurden im vergangenen Jahr 851 antisemitische Vorfälle gemeldet, bei antisemitischen Gewalttaten betrug der Zuwachs 130 Prozent. Gab es im Jahr 2009 in Dänemark noch unter zwanzig antisemitische Übergriffe, so waren es im vergangenen Jahr mehr als doppelt so viele. (Salzburger Nachrichten, 17. Feb. 2015) In Österreich war allein zwischen den Jahren 2013 und 2014 eine Verdoppelung der Zahl antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. (Salzburger Nachrichten, 18. Feb. 2015) Der in Europa alltäglich gewordene Antisemitismus spiegelt sich in den israelischen Einwanderungszahlen wider: Im Jahr 2014 gab es laut offiziellen Statistiken eine Rekordeinwanderung von 26.500 Juden nach Israel (Kleine Zeitung, 16. Feb. 2015), über 7000 davon kamen aus Frankreich. (Presse, 16. Feb. 2015)

Wenn Netanjahu nach den antisemitischen Terroranschlägen von Paris und Kopenhagen den europäischen Juden nun Israel als ihr Heim anbot, so tat er nichts anderes, als das grundlegende israelische Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen: Der Staat der Juden ist die Zufluchtsstätte für all jene, die von antisemitischer Verfolgung bedroht sind. „Alle Premiers in Israel äußerten sich in ähnlichen Lagen wie Netanyahu“, stellte Norbert Jessen dazu fest. (Kurier, 16. Feb. 2015)

Prinzipiell sollten Juden überall auf der Welt ohne Furcht leben können, praktisch bedarf es des jüdischen Staates als Mittel der kollektiven Selbstverteidigung. Dessen Existenz verändert auch das Leben in der Diaspora. In Kopenhagen, schrieb Susanne Scholl, wurden Juden ermordet, weil sie Juden waren. „So, wie im Nahen Osten Aleviten, Jesiden und Kopten zu Opfern werden, weil sie sind, was sie sind.“ (Salzburger Nachrichten, 17. Feb. 2015) Gerade der Verweis auf verfolgte Minderheiten im Nahen Osten sollte den Unterschied deutlich hervortreten lassen, den ein eigener Staat macht: Nicht noch einmal werden Jüdinnen und Juden schutzlos ihren Verfolgern ausgesetzt sein, weil kein Staat der Welt sich für sie einsetzt und sie aufzunehmen bereit ist. Die Existenz Israels bedeutet auch Sicherheit für Juden in der Diaspora, selbst wenn diese nicht unmittelbar vorhaben, auszuwandern. „Es ist gut zu wissen, dass es diese Option gibt“, brachte IKG-Präsident Oskar Deutsch diese Rückversicherung auf den Punkt. (Kurier, 18. Feb. 2015)

Dass das längst nicht alle verstanden haben, stellte am vergangenen Dienstag Krone-Außenpolitikchef Kurt Seinitz unter Beweis: Die „Moslem-Immigranten“, die Träger des neuen Antisemitismus seien, „sind der Meinung, dass alle Juden Zionisten sind. Das ist nicht der Fall, denn sonst wären sie ja in Israel.“ (Kronen Zeitung, 17. Feb. 2015) So schlicht sieht die Welt aus, wenn Seinitz „Klartext“ spricht.
 

III. Antisemitismus ist ein Problem der europäischen Gesellschaften, nicht der Juden

Netanjahus Aussagen über die Auswanderung nach Israel riefen aber noch aus einem anderen Grund so viel Aufregung hervor: Wie Gil Yaron in einem bemerkenswerten Kommentar in den Salzburger Nachrichten ausführte, hatte der israelische Premier einen Finger in die offene Wunde der Europäer gelegt und diesen einen Spiegel vorgehalten: „Denn längst gibt es in Europa kein normales, selbstverständliches jüdisches Leben mehr – im Gegensatz zu Israel.“

Yaron erzählte die Geschichte von einem Freund aus Deutschland, der während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 in Israel zu Besuch war. In Ostjerusalem sei er fast von einem Palästinenser gelyncht worden, am Abend desselben Tages habe er zweimal wegen Raketenalarms in Tel Aviv im Bunker Schutz suchen müssen. Und dennoch wolle er, dass seine Kinder nach Israel ziehen. Denn in Deutschland sei jüdisches Leben „70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nur hinter hohen Mauern möglich“. „Schon vor den Anschlägen, die sich gezielt gegen Juden richteten, konnten jüdische Gebete, Kulturveranstaltungen und Kindergartenfeiern nur unter Polizeischutz stattfinden.“ Wer heute spazieren gehen wolle, ohne sich vorher genau überlegen zu müssen, ob er es riskieren könne, eine Kippa zu tragen, der müsse nach Israel gehen. Trotz des Terrors und den Bedrohungen, denen die Bewohner des jüdischen Staates ausgesetzt seien: „Natürlich ist man hier bedroht, aber als Kollektiv, nicht als Individuum.“ (Salzburger Nachrichten, 17. Feb. 2015)

Netanjahu, so könnte man Yarons Argument zusammenfassen, habe die europäischen Gemüter so erregt, weil sein Hinweis auf die alltägliche antisemitische Bedrohung das vielgepriesene Europa der Toleranz, der Offenheit und des friedlichen Zusammenlebens Lügen gestraft habe. „Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, das Angriffe auf Juden nur der erste Schritt in Richtung totalitärer Unrechtsstaaten sind. Netanjahus Aufruf sollte also nicht Juden, sondern Europäern zu denken geben.“ (Ebd.) Leider ist zu befürchten, dass dies in Europa anders gesehen wird. Antisemitismus wird hier nur allzu oft nicht als ein Problem der Gesellschaften betrachtet, die ihn hervorbringen, sondern als eine Angelegenheit, mit der sich Juden auseinandersetzen müssten.

Dass der israelische Premier den europäischen Staaten einen Spiegel vorgehalten habe, wurde noch zugespitzter von Marc Goldberg in der Times of Israel formuliert:

„The only reason Israel exists is because of Europe‘s shabby treatment of Jews. The fact that in the 21st century Jews are still abandoning Europe to flock to Israel is a harsh reminder of European failure vis a vis the Jews. No wonder European politicians are taking it personally; it‘s a harsh indictment of their ineffectiveness.“

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!