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Warum Palästinenser Palästinenser nicht wählen lassen

Von Stefan Frank

Zwischen dem 13. und 15. Oktober hat das Zentrum für Meinungsforschung an der An-Najah National University in Nablus eine Umfrage unter Palästinensern durchgeführt, zu verschiedenen politischen Fragen. Befragt wurden 1362 Personen in der Altersgruppe über 18 Jahren, so die Autoren. Auch wenn Meinungsumfragen in autoritär oder diktatorisch regierten Ländern natürlich immer cum grano salis zu nehmen sind, kann man die Annahme riskieren, dass zumindest einige der Ergebnisse ungefälscht sind, und sie einer näheren Betrachtung unterziehen.

Der erste Teil der Studie befasst sich mit dem Konflikt zwischen Fatah und Hamas, genauer gesagt mit dem jüngsten Zank um die Kommunalwahlen im Westjordanland und dem Gazastreifen. Diese waren ursprünglich für den 8. Oktober angesetzt, dann um einen Monat, schließlich auf Anfang 2017 verschoben worden, und auch an diesem Termin darf man Zweifel hegen.

Der Hintergrund: Nachdem Hamas-Gerichte im Gazastreifen Listen, die der Fatah nahestehen, verboten hatten, hatte das höchste Gericht der Palästinensischen Autonomiebehörde verfügt, dass die Wahlen nur im Westjordanland stattfinden sollen. Daraufhin riet die Zentrale Wahlkommission, die Mahmoud Abbas – dem regierenden, aber nicht demokratisch legitimierten Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) – hörig ist, die Wahlen um sechs Monate zu verschieben. Die PA entschied sich dann zu einer Verschiebung um vier Monate.

Auf die Frage, was sie von dieser Entscheidung halten, äußerten 35,4 Prozent Zustimmung, 57,6 Prozent lehnen sie ab. 47 Prozent sind der Meinung, hier werde gegen ein Grundrecht – das auf Wahlen – verstoßen. Abbas und die PLO regieren also nicht nur weiter gegen die Verfassung, sondern gegen den Willen der Bevölkerung – aus Angst vor einem Wahlsieg der Hamas, den viele Beobachter im Falle von Wahlen für wahrscheinlich halten.

Gefragt, was ihrer Meinung nach die Beweggründe für die Entscheidung des Gerichts seien, sagen 13 Prozent: Weil die Wahlen nicht in Jerusalem stattfinden können; 14 Prozent machen die fehlende Legitimation der Gerichte und Behörden im Gazastreifen verantwortlich. 33 Prozent meinen, als Folge der Wahlen seien interne Konflikte zu befürchten, 21 Prozent sagen, Wahlen würden die „Spaltung der Palästinenser vertiefen“. Die letzten beiden Antwortoptionen laufen auf das Gleiche hinaus:„Wahlen bringen Konflikte“, findet also eine Mehrheit der Befragten. Und das, obwohl es ja zu den größten Vorzügen der Demokratie gehört, dass sie eine gewaltlose Ablösung von Regierungen ermöglicht (im Gegensatz zu den diktatorisch regierten Staaten dieser Welt mit ihren langen Geschichten von Putschen und Bürgerkriegen). Doch freilich gilt das nur dann, wenn alle Beteiligten sich dem demokratischen Prozess unterwerfen. Das ist in den Palästinensischen Autonomiegebieten erwiesenermaßen nicht der Fall, denn sowohl die Fatah als auch die Hamas sind nicht geneigt, einen Sieg des Gegners anzuerkennen, so dass gewaltsame Zusammenstöße oder politisch motivierte Massenverhaftungen wahrscheinlich wären.

Interessant ist auch, dass 55 Prozent der Befragten der Auffassung zustimmen, dass die „derzeitigen Umstände zur Durchführung von Wahlen geeignet“ seien – was bedeutet, dass 45 Prozent das nicht glauben. Demokratie ist dieser Anschauung nach also nicht die Voraussetzung von Stabilität, sondern eher umgekehrt. Darüber lohnt sich zumindest nachzudenken, auch wenn es auf den Staat „Palästina“ kein gutes Licht wirft, wenn ein so großer Teil der Bevölkerung lieber noch warten möchte, ehe er über seine politischen Führer abstimmen darf. Für den Fall, dass Wahlen stattfinden, erwartet immerhin eine relative Mehrheit von 48 Prozent einen Sieg der Fatah im Westjordanland (Hamas: 20 Prozent), 53 Prozent einen Sieg der Hamas im Gazastreifen (Fatah: 24 Prozent).

„Großbritannien ist an allem schuld!“

Balfour-DeklarationAuch nach einer neuen absurden Idee von Mahmoud Abbas wurde gefragt: 75 Prozent unterstützen Abbas’ Forderung an Großbritannien, die „historische, rechtliche, politische, materielle und moralische Verantwortung infolge der Balfour-Deklaration“ von 1917 zu übernehmen und sich zu entschuldigen. 79 Prozent machen Großbritannien für die „Katastrophen“ verantwortlich, die das „palästinensische Volk“ dadurch ereilt hätten. Dabei waren es dessen Führer, allen voran der Großmufti Amin al-Husseini, die im britischen Mandatsgebiet erst eine Welle des Terrors und der Pogrome gegen Juden auslösten, dann arabische Armeen zur Vernichtung Israels herbeiriefen und, als dies misslungen war, weiter Terror ausübten und mit ihrer antijüdischen Propaganda zur Vertreibung von 850.000 Juden aus den arabischen Ländern beitrugen. Die Forderung ist also, wie ein Beobachter es ausgedrückt hat, so, „als würden die Deutschen die Alliierten wegen des Zweiten Weltkriegs verklagen“.

Intifada?

46 Prozent befürworten eine „friedliche, unbewaffnete Intifada“ – was immer das sein mag – in den Palästinensischen Autonomiegebieten, 49 Prozent sind dagegen. 38 Prozent äußern Unterstützung für eine „bewaffnete Intifada“, also Terrorismus, 56 Prozent lehnen dies ab. 22 Prozent sind der Ansicht, beide Formen seien nützlich, 29 Prozent halten beide für unnütz.

Außenpolitik

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König Abdullah von Jordanien und Mahmud Abbas

Beachtliche 46 Prozent unterstützen die Gründung einer „Konföderation mit Jordanien auf der Basis zweier unabhängiger Staaten mit starken institutionellen Beziehungen“. Danach, wie viel Prozent für eine vollständige Vereinigung mit dem haschemitischen Königreich sind, wurde leider nicht gefragt. Das Westjordanland hat eine enge wirtschaftliche Verflechtung mit Jordanien, der jordanische Dinar kursiert dort als Währung neben dem israelischen Schekel. Eine Lösung des arabisch-israelischen Konflikts durch eine Vereinigung des Westjordanlands mit Jordanien und des Gazastreifens mit Ägypten wird seit langer Zeit immer wieder von manchen Akademikern ins Gespräch gebracht, war aber für den nach Geld und Macht strebenden PLO-Führer Jassir Arafat und seinen Nachfolger Mahmoud Abbas immer eine Horrorvorstellung und wird, weil auch die arabischen Staaten nicht an einer einfachen, friedlichen Lösung interessiert sind, auf internationalem Parkett nicht diskutiert.

Die dort üblicherweise verhandelten Vorschläge finden übrigens alle keine mehrheitliche Unterstützung (immer vorausgesetzt, dass die Umfrage tatsächlich die Meinungen unverfälscht abbildet).  So halten lediglich 36 Prozent der Befragten die Gründung eines palästinensischen Staates „auf dem gesamten Gebiet“ in den „Grenzen von 1967“ (gemeint sind die von Jordanien und Ägypten im Krieg von 1948/49 besetzten Gebiete) für eine Lösung; eine Lösung mit einem Landtausch mit Israel, bei dem jüdische Städte jenseits der Waffenstillstandslinie von 1949 an Israel fielen, wofür Israel im Gegenzug mehrheitlich arabische Gebiete abtreten würde – was die einzige realistische Form der Zweistaatenlösung ist, da keine israelische Regierung der Zerstörung ganzer Städte samt Vertreibung Hunderttausender Juden zustimmen wird –, wird nur von 22 Prozent unterstützt. Ein binationaler Staat für alle Juden und Araber, das Steckenpferd westlicher Linker, findet gar nur die Unterstützung von 18 Prozent.

Israel boykottieren? Sollen die andern.

milchInteressant ist die Haltung zu Boykotten israelischer Güter. Seit einiger Zeit betreibt die Fatah eine lächerliche, doch gleichwohl gefährliche Kampagne gegen israelische Waren und ruft Händler auf rabiate Weise dazu auf, diese nicht mehr zu verkaufen. Israelische Milchtüten werden aus den Regalen genommen, aufgerissen, die Milch auf der Straße vergossen.

Wie finden das die Teilnehmer der Umfrage? Das Ergebnis ist widersprüchlich und zeigt, dass der Boykott eher in Worten als in Taten unterstützt wird: Zwar geben 75 Prozent der Befragten an, den Boykott gutzuheißen; doch sagen 13 Prozent, sie kauften „immer“ israelische Produkte, 47 Prozent entscheiden „nach der Qualität der Ware, unabhängig von der Herkunft“. Addiert man diese Gruppen, kommt man auf 60 Prozent, die sehr wohl israelische Waren kaufen. Das passt dazu, dass nur 37 Prozent angeben, „immer palästinensische Waren zu kaufen“. Es gibt in den Palästinensischen Autonomiegebieten also etwa 40 Prozent, die zwar wollen, dass andere die israelischen Waren boykottieren, dies selbst aber nicht tun.

Nach den Gründen gefragt, warum „manche“ (!) Personen sich nicht an dem Boykott israelischer Güter beteiligen, sagen nicht weniger als 64 Prozent, dass man den lokalen Produkten „nicht trauen“ könne; 59 Prozent sagen, es gebe für die israelischen Produkte gar „keinen Ersatz“ (das sollte den Vertretern der BDS-Boykottbewegung Kopfzerbrechen bereiten); 54 Prozent führten das auf die „hohen Preise der lokalen Produkte“ zurück. 24 Prozent gaben an, dass die israelischen Produkte die „Einkommensquelle“ für die betreffenden Personen seien. Gefragt wurde hier, wie gesagt, nur nach den Motiven, die die Befragten anderen unterstellen, da man offenbar von niemandem erwarten kann, zuzugeben, dass er selbst gerne israelische Waren kauft.

Eigene Lage

Es gibt, das zeigt die Umfrage – und das spricht dafür, dass sie echt ist –, große Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung in den Palästinensischen Autonomiegebieten. 31 Prozent sagen, angesichts der „derzeitigen politischen, Sicherheits- und wirtschaftlichen Lage“ verspürten sie den „Wunsch auszuwandern“. 48 Prozent sagen, sie fürchteten unter den derzeitigen Umständen „um ihr Leben“. 60 Prozent sind „pessimistisch“, was die allgemeine Lage angeht; 77 Prozent sagen, „sie, ihre Familien und ihr Eigentum“ seien „unter den derzeitigen Umständen nicht sicher“.

Diese Zahlen erklären, warum Abbas nicht erpicht darauf ist, irgendwelche Wahlen stattfinden zu lassen.

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