„Es herrscht Ausnahmezustand, aber in der Stadt ist davon nichts zu sehen. In der Haupteinkaufsstraße im Stadtteil Beyoğlu, der Istiklal Caddesi, steht zwar schwer bewaffnete Polizei an neuralgischen Punkten, aber vor dem Putsch war mehr Staatsmacht in der Stadt präsent. Streit über das Referendum zur Verfassungsänderung – die größte Entscheidung in der jüngeren Geschichte der Republik – ist sechs Wochen vor dem Abstimmungstag, dem 16. April, öffentlich kaum sichtbar. Nur am Taksim-Platz hängt an einer Hauswand ein riesiges rot-schwarzes Plakat der Regierung mit dem Slogan: ‚Unser Vaterland wird sich weder den Putschisten noch den Terroristen ergeben.‘ Die Werbeflächen der Bushaltestellen sind mit dem Porträt des Ministerpräsidenten Yildirim belegt, der für ein Ja wirbt. An einer Hauswand versteckt ein Graffiti: ‚Die Hoffnung ist die Sehnsucht der Aufgeklärten.‘
Die Gegner der Verfassungsänderung haben an der Metrostation Haciosman eine kleine Bühne für ihre Nein-Proteste aufgebaut. Für die sonst so laute Stadt kommt dies einer Friedhofsruhe gleich. ‚Hüzün‘ nennt man in Istanbul die melancholische Traurigkeit, die nicht nur im Winter die Bewohner der Stadt befällt. Aber jetzt scheint die Stimmung anders, bedrückt, eher wie die Ruhe vor dem Sturm.“ (Necla Kelek: „Die Mächtigen wissen nicht, was das Volk denkt“)