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Jesiden im Irak: Bittere Befreiung vom IS

Von Thomas von der Osten-Sacken

Jesiden im Irak: Bittere Befreiung vom ISVergangene Woche wurde im nordirakischen Sinjargebirge das Dorf Kocho befreit. Für die Überlebenden des genozidalen Massenmordes, den Milizen des Islamischen Staates im August 2014 an den jesidischen Bewohnern des Sinjar verübten symbolisiert der Name Kocho das ganze Grauen, das damals geschah. Aus einem Bericht von damals:

Berichten jesidischer und kurdischer Amtspersonen vom Samstag [16. Aug. 2014] zufolge haben Extremisten in einem jesidischen Dorf mehr als 80 Männer getötet und Hunderte Frauen festgesetzt. (…) Nach einer einwöchigen Belagerung durch eine al Qaeda-nahe Gruppe, die bei Androhung des Todes verlangte, dass die Bewohner zum Islam konvertieren, seien Kämpfer des Islamischen Staats am Freitag von der 25 km entfernten Stadt Sindschar aus in das Dorf Kocho gefahren. Eine unabhängige Bestätigung der Berichte war nicht möglich. Die Männer seien zusammengetrieben und hingerichtet und die Frauen an einen unbekannten Ort verschleppt worden, erklärte Ziad Sindschar, ein Kommandeur der am Rande der Sindschar-Bergs stationieren Peschmerga unter Berufung auf Bewohner nahegelegener Dörfer.

Die Befreiung von Kocho sollte also eigentlich ein Grund zur Freude sein, ist es aber nicht, weil inzwischen  die kurdischen Parteien KDP und PKK, die Türkei, die irakische Zentralregierung und der Iran wetteifern, wer die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Gebiet in Zukunft ausüben wird.

Seit der Iran seinen geplanten Landkorridor durch den Irak nach Syrien verlegt hat, richtet sich sein Augenmerk auf das Sinjargebirge, an dessen Südflanke eine wichtige Verbindungsstraße zwischen Mosul und Aleppo verläuft. So beteiligen sich neuerdings nun auch schiitische Milizionäre an den Kämpfen um die letzten vom IS gehaltenen ezidischen Dörfer. Zugleich unterhält die PKK eine eigene jesidische Miliz, die offiziell an die von Bagdad bezahlten und weitestgehend vom Iran kontrollierten Haschd asch-Schabi-Milizen angegliedert ist.

Die PKK wiederum spielt seit längerem mit dem Gedanken, im Sinjar einen eigenen Kanton auszurufen, während die mit der Türkei verbündete Kurdisch Demokratische Partei (KDP) unter Massoud Barzani das Gebiet für sich beansprucht. Die KDP geriet 2014 unter heftige Kritik, weil sie die Bewohner des Sinjar trotz anderslautender Versprechen nicht vor dem IS beschützt hatte, sondern ihre Peshmerga vor den anrückenden Jihadisten flohen und die Zivilbevölkerung ihrem blutigen Schicksal überließ.

Die Türkei dagegen unternimmt alles – und bombardiert in letzter Zeit regelmäßig Stellungen jesidischer Milizen, die mit der PKK verbündet sind –, um so zu verhindern, dass an ihrer Grenze im Irak ein weiteres von der PKK kontrolliertes Gebiet entsteht. Ein solches Szenario fürchtet auch die KDP, die seit langem die PKK auffordert, sich aus dem Sinjar zurückzuziehen.

Die Fronten also verlaufen so: Türkei und KDP gegen Iran, irakische Zentralregierung und die PKK. Wer dabei auf der Strecke bleiben wird sind einmal mehr die jesidischen Bewohner der Region, die bis heute zum hunderdtausenden in Flüchtlingslagern leben müssen und kaum Aussicht auf Rückkehr haben.

Entsprechend bitter fällt die Befreiung von Kocho aus, denn, wie Ezidipress schreibt, es geht nur noch um die kurzfristigen taktischen Ziele miteinander verfeindeter lokaler Akteure, denen allen das Schicksal der Jesidinnen und Jesiden herzlich wenig bedeutet:

„Die kurdische Führung im Nordirak beklagte sich zuvor über die Offensive der schiitischen Milizen, da sie um den Verlust des Südens fürchtet. Sie missbrauchte in der Vergangenheit die besetzten Dörfer und die Aussicht auf eine Befreiung als Druckmittel gegenüber den êzîdîschen Verantwortlichen. Die Befreiung des Südens haben sich nun die schiitischen Milizen auf die Fahne geschrieben und damit den Peshmerga und ihrem Präsidenten Masoud Barzani die Möglichkeit genommen, sich erneut als ‚Befreier der Êzîden‘ zu inszenieren.

Die Rückeroberungen der Dörfer durch schiitische Milizen wird die politische Situation in Shingal jedoch noch komplexer machen und stößt bei vielen êzîdîchen Beobachtern auf Skepsis. Befürchtet wird, dass Bagdad die Kontrolle über den Süden für sich beanspruchen wird und sich im Machtkampf um die Region stärker als zuvor einschaltet. Dies könnte erneut zu einer Pattsituation führen, die bereits vor dem Völkermord an den Êzîden in Shingal herrschte und zu einer Marginalisierung der Region führte.

Der innerkurdische Machtkampf im Norden, die türkischen Luftschläge im Gebirge und nun die Partizipation der schiitischen Milizen Bagdads im Süden werden die Region auch nach vollständiger Befreiung praktisch unbewohnbar machen und eine Rückkehr der êzîdîschen Flüchtlinge weiter verzögern.“

Artikel zuerst erschienen auf Jungleblog.

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