Putschversuch in der Türkei: Ein Fest der Ausflüchte

Das türkische Fernsehen NTV zeigt am Putsch beteiligte Soldaten, die sich an der Bosporus-Brücke in Istanbul mit erhobenen Händen ergeben. 15. Juli 2016.

Von Burak Bekdil

In der Türkei wirkte alles surreal: Soldaten, die den Leiter der Terrorbekämpfungseinheit der Polizei zu einem „Treffen“ einluden, nur um ihm in den Kopf zu schießen; die hohen Tiere des Militärs – einschließlich des Generalstabschefs und der Oberkommandierenden der Luftwaffe, des Heeres und der Gendarmerie – die von ihren eigenen Ordonnanzen als Geiseln genommen wurden; dann Menschen, die zu Tausenden auf die Straße gingen, um dem Staatsstreich Widerstand zu leisten, Panzer zu besetzen und getötet zu werden; Soldaten, die das Feuer auf Zivilisten eröffneten und schließlich die siegreichen Erdoğan-Fans, die am Putsch beteiligte Soldaten lynchten, wo immer sie ihrer habhaft werden konnten.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschuldigte seinen ehemals treuesten politischen Verbündeten, einen muslimischen Kleriker im Exil in den USA – Fethullah Gülen – und dessen Getreuen im Militär. Vor einer Menschenmenge seiner Parteianhänger ersuchte Erdoğan Washington „den Terroristen“ Gülen auszuliefern.

Erdoğans Geheimdienst und loyale Polizeikräfte verhafteten sofort fast 6.000 Offiziere und Mitglieder des Justizsystems; es wurde behauptet, sie gehörten zur „gülenistischen Terrororganisation“. Justizminister Bekir Bozdag sagte, weitere Verhaftungen stünden bevor, was das Bevorstehen einer Hexenjagd im ganzen Land erkennen lässt. Sofort nach diesem Schritt entließ das Innenministerium 8.777 Beamte, darunter Gouverneure, die verdächtigt werden „Gülenisten“ zu sein; zudem wurden tausende Angehörige des Justizsystems verhaftet. Viele Liberale glauben, dass die Regierung den Putsch als Vorwand nutzen wird ihre Gegner einzuschüchtern, ob sie nun irgendwelche Verbindungen zu Gülen haben oder nicht.

„[Erdoğan] geht daraus enorm gestärkt hervor“, sagt Howard Eissenstat, Lehrbeauftragter für Geschichte des Nahen Ostens an der St. Lawrence University in Canton (New York). „Das hat seine Basis mobilisiert, die seiner so langsam müde wurde. Es gab ihm zumindest einen Moment, in dem er alle Elemente der Gesellschaft gegen eine klare Bedrohung einen konnte.“

Die Türkei wird ab jetzt für Dissidenten ein noch härterer Ort zum Leben sein. Erdoğan spricht bereits von der Wiedereinführung der Todesstrafe. „Unsere Regierung wird [die Todesstrafe] mit der Opposition diskutieren“, sagte er, als er vor einer Menschenmenge von Parteifans sprach, die seine Rede mit dem Slogan „Wir wollen die Todesstrafe“ unterbrach. Dann sagte er, er würde die Wiedereinführung der Todesstrafe unterstützen, wenn das Parlament sie genehmigt.

Derweil gab die Generalabteilung Sicherheit, die die Polizeikräfte führt, eine Erklärung heraus, die die Bürger aufruft, sie über alle Inhalte aus sozialen Medien zu informieren, mit denen Terroristen oder die Organisation Gülen unterstützt werden oder Propaganda gegen die Regierung gemacht wird.

All diese türkischen Turbulenzen erinnern an den Reichstagsbrand, einen Brandanschlag auf das deutsche Parlamentsgebäude in Berlin am 27. Februar 1933. Der junge niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe wurde wegen des Verbrechens verhaftet. Er war erst kurz davor in Deutschland eingetroffen; er bekannte sich schuldig und wurde zum Tode verurteilt. Der Reichstagsbrand wurde von der Nazi-Partei als Vorwand genutzt der deutschen Öffentlichkeit zu erzählen, dass Kommunisten ein Komplott gegen die deutsche Regierung planten – ein Schlüsselereignis bei der Etablierung der Macht der Nationalsozislisten.

Es könnte sein, dass wir niemals erfahren, ob der gescheiterte Putsch vom 15. Juli eine türkische Version des Reichstagsbrands war. Aber wir wissen mit Sicherheit, dass er als Vorwand für die Behauptung genutzt werden wird zu behaupten, eine Vielzahl an Feinden innerhalb wie außerhalb der Türkei habe sich gegen die Regierung verschworen.

Burak Bekdil lebt in Ankara und ist ein türkischer Kolumnist für die Zeitung Hürriyet Daily und ein Mitglied des Middle East Forums.Artikel zuerst erschienen bei Gatestone Institute.

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