Palästinensische Versöhnung: Konsequenzen und offene Fragen

Von Michael Herzog

Am 1. November hat die Hamas den Prozess der Übergabe der drei Grenzübergänge des Gazastreifens an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) eingeleitet. Dies stellt einen Teil des unter ägyptischer Schirmherrschaft unterzeichneten Versöhnungsabkommens zwischen der Hamas und der PA dar. Dieses Abkommen ist weitreichender als die zahlreichen Abkommen die in der Vergangenheit geschlossen wurden. Es hat eine neue Realität geschaffen, in der die Palästinensische Autonomiebehörde zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder in Gaza ist und die Verantwortung für den Streifen im zivilen Bereich übernimmt.

Palästinensische Versöhnung: Konsequenzen und offene FragenDas Kommunikations- und Forschungszentrum BICOM sprach mit Senior Visiting Fellow Brigadegeneral (Res.) Michael Herzog über die Gründe, die zu der Vereinbarung führten, über die strategische Orientierung der Hamas im Lichte der Vereinbarung sowie über die offenen Fragen, die nicht in dem Abkommen enthalten sind und die voraussichtlich im Laufe der Zeit zu Komplikationen führen werden.

 

Die PA und die Hamas – unterschiedliche Perspektiven des Versöhnungsabkommens

Das Abkommen, das jetzt vor Ort umgesetzt wird, ist nach wie vor nur ein partielles Abkommen. Einige der wichtigsten Fragen, insbesondere die der Zukunft des militärischen Flügels der Hamas und dessen Rolle in der PLO, müssen im weiteren Verlauf erst noch geklärt werden.

Vorerst setzen die beiden Parteien das um, worauf sie sich einigen konnten. Die Sorgen der Hamas bezüglich der Versorgung der Menschen im Gazastreifen mit Strom, Nahrungsmitteln und Arbeitsstellen wurden an die PA weitergereicht. Das Positive an dem Abkommen ist für den Westen und für Israel die Tatsache, dass es die Hamas weg von Katar in Richtung von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) führt. Es ermöglicht, sich der humanitären Krise im Gazastreifen anzunehmen und verbessert die Möglichkeit auf einen langfristigen Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel.

Allerdings wirft es auch schwerwiegende Fragen auf. Trotz der Vereinbarung sieht man den Deal in Ramallah wesentlich anders als in Gaza. Für Abbas geht es bei dem Abkommen darum, dass die Hamas alle Verantwortung im Gazastreifen an die PA übergibt, damit er sich als Repräsentant beider Bereiche darstellen kann. Für die Hamas hingegen ist der Versöhnungsdeal etwas, das auf Gegenseitigkeit beruht. Er soll der Hamas freies politisches Handeln im Westjordanland ermöglichen sowie den Beitritt zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), dem übergreifenden Vertretungsorgan der Palästinenser. Letzten Endes ist es das Ziel der Hamas, die PLO und die nationale palästinensische Bewegung in der Post-Abbas-Ära zu übernehmen. Aus Sicht der Hamas war sie es (als sie 2006 die Parlamentswahlen gewann), die die Lücke füllte, die nach Arafats Tod Ende 2004 entstanden war; und jetzt wollen sie die Lücke füllen, die entstehen wird, wenn der betagte Abbas von der politischen Bühne abtritt.

Abgesehen vom Pragmatismus, den die Hamas bei diesem Abkommen zeigt, ist die Vereinbarung auch kein Zeichen einer tiefgehenden ideologischen Neuausrichtung der Bewegung. Wie die Führung der Organisation immer wieder betont, wird die Hamas weder auf ihren militärischen Arm verzichten, noch ihren islamistischen Charakter aufgeben und der Anerkennung Israels zustimmen.

 

Hamas fährt weiterhin zweigleisig

Palästinensische Versöhnung: Konsequenzen und offene FragenDer Besuch einer hochrangigen Hamas-Delegation im Iran – an ihrer Spitze deren frischgewählter stellvertretender Anführer Saleh al-Arouri –, kurz nach der Unterzeichnung des Abkommens (gefolgt von einem Treffen zwischen Arouri und dem Führer der Hisbollah, Nasrallah, in Beirut), sollte demonstrieren, dass sich die Hamas nicht nur im Dunstkreis Ägyptens bewegt, sondern auch weiterhin hervorragende Beziehungen zu der vom Iran angeführten regionalen „Achse des Widerstands“ unterhält. Vermutlich zielte der Besuch außerdem darauf ab, Netanyahu und dessen drei Bedingungen zur Annahme der Versöhnungsvereinbarung – wovon eine verlangte, die Hamas müsse ihre Beziehungen zum Iran beenden – die Stirn zu bieten.

In erster Linie will sich die Hamas jedoch die finanzielle und militärische Unterstützung des Iran erhalten. Offensichtlich sind die Iraner nicht erfreut über dieses Abkommen, aber sie können schlecht sagen, sie wären gegen die Einheit der Palästinenser. Die Hamas will den Iranern zeigen, dass sie sich nach wie vor als Teil des „Widerstandslagers“ empfindet und sie weiterhin die Unterstützung des Iran verdient. Dies ist zumindest teilweise der Grund dafür, dass sich die Hamas explizit weigert, ihre Waffen niederzulegen.

Die Hamas fährt also weiterhin beide Schienen – sie arbeitet einerseits mit Ägypten und der PA an der Umsetzung einer Versöhnungsvereinbarung, nach der sie sich an einen Waffenstillstand halten müsste, während sie gleichzeitig vor der Kamera mit dem Iran flirtet und sich bemüht, ihre militärischen und terroristischen Kapazitäten zu erhalten und auszuweiten.

Die Wahl Sinwars hat die Grenzen zwischen den beiden Flügeln der Hamas einigermaßen verwischt. Sinwar legte Wert darauf, zu betonen, dass die Versöhnungsvereinbarung vom militärischen Flügel befürwortet wurde. Der Grund für die Idee, Saleh al-Arouri zur Nummer zwei in der Rangfolge der Bewegung zu ernennen, lag nicht nur darin, dass er die Hamas im Westjordanland repräsentieren sollte (die anderen Hamas-Führer stammen nämlich alle aus dem Gazastreifen), sondern auch darin, dass al-Arouri – der mittlerweile in Beirut lebt, nachdem er zuerst aus der Türkei und dann aus Katar ausreisen musste und der der Drahtzieher der Entführung und Ermordung dreier israelischer Teenager im Jahr 2014 war – nach wie vor die Fahne des Widerstands hochhält.

 

Die offenen Fragen hinsichtlich der Versöhnung

Palästinensische Versöhnung: Konsequenzen und offene FragenWährend die Hamas im Großen und Ganzen ihren Teil des Abkommens umgesetzt hat, steht die Aufhebung der Sanktionen der PA gegen Gaza und die Wiederaufnahme der vollständigen finanziellen Unterstützung für den Küstenstreifen immer noch aus. Außerdem hat es den Anschein, dass – auch wenn die Hamas sich bereit erklärt hatte, um der Versöhnung willen ihre Terroraktionen im Westjordanland auszusetzen – sie im Gegenzug erwartet hatte, die PA höre damit auf, die Hamas wegen ihrer politischen Aktivitäten in diesem Gebiet unter Druck zu setzen: Bislang wurde sie in dieser Hinsicht allerdings enttäuscht.

Am Ende gibt es einige wichtige Fragen, die nach wie vor nicht geklärt wurden und offen bleiben:

  • Die Zukunft des militärischen Flügels der Hamas

Eine der großen Fragen, die sich uns stellt, ist: Was geschieht mit dem militärischen Flügel der Hamas? Abbas hat bereits festgestellt, dass er das „Hisbollah-Modell“ (bei dem eine Organisation sowohl Teil der Regierung ist, aber gleichzeitig auch ihren eigenen militärischen Arm beibehält) nicht akzeptieren wird. Die Ägypter haben jedoch alle Diskussionen zu diesem Thema in die weitere Zukunft verschoben. Die Hamas besteht weiterhin darauf, keinesfalls ihre Waffen niederzulegen. Diese Situation wirft auch für Israel eine Frage auf: Wen kann es für zukünftige Raketen, die möglicherweise aus dem Gazastreifen auf Israel abgeschossen werden, zur Verantwortung ziehen? In der schwierigen Frage ob und wie sie ihre internen Sicherheitsorgane im Gazastreifen integrieren sollen, haben sich die PA und die Hamas unterdessen geeinigt.

Für Israel gehört die Entwaffnung der Hamas (und aller anderen bewaffneten palästinensischen Fraktionen) zu jenem Grundsatz (auf den man sich bereits in früheren Verhandlungen geeinigt hatte), der fordert, dass ein künftiger palästinensischer Staat entmilitarisiert sein muss.

  • Hamas, PLO und PA-Wahlen

Die aktuelle Versöhnungsvereinbarung basiert auf dem Übereinkommen von Kairo aus dem Jahr 2011, welches verlangt, dass die Hamas ein Teil der PLO werden soll. Während jedoch die technische Debatte darüber, in welcher Stärke die Hamas künftig in der PLO vertreten sein soll, andauert (die Hamas verlangt 40 Prozent, während Abbas keinesfalls willens ist, mehr als 30 Prozent zu gewähren), ist die Frage, ob dieser Teil der Vereinbarung tatsächlich von Abbas umgesetzt werden wird, immer noch offen.

Nach dem Abkommen von Kairo sollten beide Parteien – innerhalb einer vorgegebenen Frist – zu Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten aufrufen (die letzten fanden 2005 bzw. 2006 statt). Ob Abbas jedoch Wahlen ausrufen (und dabei als Kandidat antreten) wird, wenn er denkt, dass er verlieren könnte?

  • Die palästinensische Regierung und der Friedensprozess

Man kann davon ausgehen, dass die USA, sobald sie ihre Friedensinitiative – was immer diese beinhalten mag – erst einmal gestartet hat, umgehend direkte Verhandlungen zwischen Israel und der PA einleiten will. Wird man dann aber von Israel erwarten, mit einer palästinensischen Einheitsregierung zu verhandeln, zu der auch die Hamas zählt oder die von der Hamas unterstützt wird? Netanyahu hat erklärt, dass dies nicht geschehen wird, und seine Position wurde von den USA unterstützt. Als Reaktion darauf verkündete Abbas, dass jeder Minister der neuen Regierung vor seiner Ernennung Israel anerkennen müsse – die Frage bleibt allerdings, ob dies Israel und die USA zufriedenstellen wird? Darüber hinaus ist auch die Zusammensetzung der Einheitsregierung nach wie vor noch nicht entschieden. Wird sie aus Politikern oder Technokraten bestehen? Auf jeden Fall ist es ein Thema, das einen zukünftigen Friedensprozess verkomplizieren könnte.

  • Öffentliche Gehälter der Palästinenser und Wiederinstandsetzung der Infrastruktur

Laut der Versöhnungsvereinbarung haben sich beide Parteien verpflichtet, bis Februar 2018 eine Lösung in der Frage der Gehälter von Hamas-Beamten zu finden. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind bereit, gewisse Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, jedoch nicht für alle 40.000 betroffenen Personen. Ein EU-Offizieller hat vor Kurzem errechnet, das sich alleine die Summe zur Bezahlung der Gehälter auf ungefähr 40 Millionen USD monatlich und rund 0,5 Milliarden USD pro Jahr belaufen würde. Ich kann in der internationalen Gemeinschaft keine Begeisterung erkennen, die finanziellen Mittel zur Deckung dieser Finanzlast zur Verfügung zu stellen oder die grosßen Investitionen zu tätigen, die erforderlich wären, um die zusammenbrechende Infrastruktur im Gazastreifen wieder in Ordnung zu bringen. Daher ist es unklar, wie dieses Problem gelöst werden soll.

Artikel ursprünglich erschienen auf Audiatur Online. Gekürzte Fassung der Originalversion: „The Palestinian reconciliation agreement – context, consequences and open questions“ © Britain Israel Communications and Research Centre

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