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Muss man mit Grass reden?

Im einem „Kommentar der Anderen“ im heutigen Standard nimmt der Journalist Wolfgang Michal Stellung zur Grass-Debatte und belegt damit eindrucksvoll, dass der deutsche Literaturnobelpreisträger längst nicht der Einzige ist, dem es an Urteilsvermögen mangelt.

Günter Grass, so beginnt Michal, habe mit seinem Gedicht „eine Dummheit“ begangen, weil er „ein Tabu gebrochen (hat), das nie existiert hat.“ Angesichts der bereits seit Jahren ablaufenden öffentlichen Debatten über einen möglichen israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen sei es dumm zu behaupten, dass über die Gefahr eines Krieges im Nahen Osten allerorten geschwiegen würde. Mit dem Einreiseverbot, das jetzt über Grass verhängt wurde, begehe Israel aber einen „schweren Fehler“. „Einen Schriftsteller, der sich ein Leben lang für das Existenzrecht Israels eingesetzt hat, sperrt man nicht aus, nur weil er ein missliebiges Gedicht geschrieben hat. Man lädt ihn ein und redet mit ihm.“

Hier liegt auf Michals Seite gleich ein mehrfaches Missverständnis vor: Erstens mag Grass sich lebenslang für das „Existenzrecht“ Israels „engagiert“ haben, seine öffentlichen Äußerungen waren aber schon bisher, vorsichtig gesagt, kaum von einer besonderen Freundschaft zum jüdischen Staat geprägt. Zweitens hat der „Dichter“ doch gerade eben erst deutlich gemacht, dass er den verzweifelten israelischen Versuch, die Existenz des jüdischen Staates vor einer existenziellen Bedrohung zu schützen, als Gefahr für den Weltfrieden betrachtet.

Und drittens hat Grass nicht einfach ein „missliebiges Gedicht“ geschrieben, sondern mit seinem Text seine vollkommene Unfähigkeit unter Beweis gestellt, zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Opfer und Täter zu unterscheiden. Es ist, als hätte im August 1939 jemand in einem öffentlichen Aufschrei davor gewarnt, dass Deutschland von einem polnischen Angriff und einem jüdischen Vernichtungsfeldzug bedroht sei. Wäre es schon damals nicht die Aufgabe der Polen gewesen, so jemanden einzuladen, um ihn über seinen Irrsinn aufzuklären, so ist es heute nicht Israels Aufgabe, ausgerechnet einem Ex-Mitglied der Waffen-SS die Hand zu reichen, nachdem der sich gerade mit einer zeitgemäßen Adaption des Treitschke-Ausspruches „Die Juden sind unser Unglück!“ seiner Gewissensqualen entledigt hat.

Aber nicht nur Grass hätte, bevor er sich öffentlich zum Nahen Osten äußert, erst einmal ein paar sachkundige Bücher lesen oder zumindest einen Volkshochschulkurs über Geschichte und Politik der Region belegen sollen. Auch Michal könnte eine Auffrischung gewisser Grundkenntnisse der Politik nicht schaden. Vielleicht würde er sich dann Sätze wie diesen verkneifen: „Das iranische Volk und die iranische Regierung darf man ebenso wenig gleichsetzen wie das israelische Volk und seine derzeitige Regierung.“ Ob er schon jemals etwas über den Unterschied zwischen einer theokratischen Diktatur, wie sie im Iran herrscht, und einer parlamentarischen, repräsentativen Demokratie wie Israel gehört hat? Ob er sich jemals Gedanken darüber gemacht hat, welch unterschiedlicher Grad an Legitimität einer Regierung sich aus der Differenz zwischen Diktatur und Demokratie ergibt? „Könnten beide Völker angstfrei wählen, würden sie ihre Falken-Regierungen wahrscheinlich lieber heute als morgen in die Pension schicken“ – würde Grass diesen Satz lesen, er wäre bestimmt sauer, dass diese famose Gleichsetzung nicht ihm eingefallen ist.

„Nur durch öffentliche Atomkriegs-Spielchen (und die daraus resultierenden Ängste in der Bevölkerung) können sich Netanjahu und Ahmadi-Nejad in ihren Ämtern halten.“ Wen kümmert es schon, dass das iranische Regime, von dem die zum „Atomkriegs-Spielchen“ verniedlichte apokalyptische Gefahr ausgeht, sich in Wahrheit nur mit brutaler Repression jeglicher Opposition an der Macht hält, während der in Europa besonders verhasste Netanjahu sich in Israel vor allem deshalb relativ großer Unterstützung erfreuen kann, weil er ein (zumal für israelische Verhältnisse) einigermaßen erfolgreicher Premierminister ist?

Dem Standard ist wenigstens dafür zu gratulieren, dass die von ihm ausgewählte Bebilderung von Michals Kommentar eigentlich schon alles sagt: „Links eine iranische Mittelstreckenrakete, rechts eine israelische Abwehrrakete“ – Angriff oder Verteidigung, für diesen Unterschied interessiert sich Michal genauso wenig wie Grass.

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