Tunesien: Aufarbeitung der Vergangenheit

Am Samstag den 14. Januar fand eine Zeugenanhörung der tunesischen „Kommission für Wahrheit und Würde“ statt, in der Opfer über systematische Folter und Gewalttaten durch Sicherheitskräfte des Ben-Ali-Regimes aussagten. Die Anhörung wurde landesweit im Fernsehen übertragen.

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Öffentliche Zeugenanhörung der tunesischen „Kommission für Wahrheit und Würde“

Am 14. Januar 2011 glückte in Tunesien ein Staatsstreich. Der autokratische Herrscher Zine Abidine Ben Ali und seine Frau Leila Trabelsi mussten das Land verlassen. Die Ben Alis und die Trabelsis pflegten zuvor einen königlichen Lifestyle, schwammen im Geld, besaßen Luxusyachten und Unmengen von Autos, Sportwägen und Supercars, Ländereien, Palästen und Hotels. Das Vermögen Ben Alis basierte auf enormen Ausmaßen von Korruption und simplem Diebstahl. Ein Vorfall brachte sogar diplomatische Spannungen mit dem politischen Partner Frankreich mit sich, als 2008 die Yacht eines französischen Bankiers aus dem Hafen von Korsika entwendet wurde. Zwei Wochen später tauchte sie an der Küste von Tunis wieder auf, der Lack war umgespritzt worden und die Registrierungsnummer geändert. Zwei Neffen von Leila Trabelsi wurden von der französischen Justiz dafür zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Nicht nur die engsten Verwandten des Clans um Ben Ali und Trabelsi waren Profiteure des Korruptionsregimes. Weite Teile des Administrationsapparats, der Politik und der Sicherheitskräfte konnten für kleine Gefallen ihre Beziehungen spielen lassen; für einen Karriereschub, für ein schwer beizukommendes Dokument, für Straffreiheit. Die Macht des Regimes wurde natürlich nicht nur durch diese Gefälligkeiten gefestigt, sondern auch durch die systematische Unterdrückung der Bevölkerung, einem gigantischen Geheimdienstapparat, durch Einschüchterung, Polizeibrutalität und durch willkürliche Inhaftierungen.

Auch heute noch sind Teile des politischen Establishments ehemalige Mitglieder der Elite von damals. Der amtierende Staatspräsident Beji Said Essebsi war schon unter Ben Ali und seinem Vorgänger Habib Bourguiba in diversen Ministerialämtern tätig gewesen, unter anderem als Innenminister, Außenminister und Verteidigungsminister. So überrascht es nicht, dass er an der Aufklärung von Gewalt und Korruption im Tunesien vor dem arabischen Frühling kein großes Interesse besitzt. Der Umsturz in Tunesien hat allerdings dazu geführt, dass erstmals zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Interessen selbst vertreten können, dass Pressefreiheit mehr oder weniger gegeben ist (mit einigen Einschränkungen bei religiösen und politischen Themen) und dass Treffen wie das der „Kommission für Wahrheit und Würde“ stattfinden. Das Ziel der Kommission ist es, das Ausmaß der Brutalität des Regimes von Ben Ali und seinen Sicherheitskräften aufzuklären und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Am Samstag den 14. Januar 2017, genau sechs Jahre nach dem Staatsstreich, tagte die Kommission zu einer öffentlichen Anhörung von sechs Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen durch das alte Regime. Insgesamt wurden bereits über 62.000 Zeugenberichte gesammelt, die Verstöße gegen die Menschenrechte des Regimes unter Ben Ali belegen sollen. Etwa 11.000 davon sind nach Angaben der Vorsitzenden Sihem Ben Sedrinebereits durch die Kommission geprüft.

Anhörung vom 14. Januar 2017

tunis-uebergangsverfassungDie Kommission wurde im Dezember 2013 von der verfassungsgebenden Versammlung ins Leben gerufen. Sie besitzt staatliche Legitimation, besteht aber aus unabhängigen Mitarbeitern. Sie soll Opfer von staatlicher Gewalt entschädigen und die Verantwortlichen vor Gericht bringen, will Aufklärung und Versöhnung schaffen. Denn die Gräben sind noch tief in der tunesischen Gesellschaft. Viele Mitglieder der islamistischen Ennahdha-Partei, die heute im Parlament sitzen, waren als politische Häftlinge unter Ben Ali inhaftiert. Die Regierungspartei Nidaa Tounes besteht dagegen zu großen Teilen aus der alten Elite.

Inklusive der Anhörung vom 14. Januar wurden mittlerweile insgesamt fünf Sitzungen der Kommission abgehalten, drei von ihnen – unter ihnen jene vom Januar – wurden im landesweiten Fernsehen übertragen. Das historische Datum dieser fünften öffentlichen Sitzung versinnbildlicht die Bemühungen um die Transition des Landes zur Demokratie. Der ehemalige Staatspräsident Moncef Marzouki, sowie einige Mitglieder des Parlaments saßen bei der Anhörung, die man auf Englisch auch im Internet ansehen kann, im Publikum Dabei sollte es vor allem um drei Themenschwerpunkte gehen: Gewalttaten während der Tage der „Jasminrevolution“, Instrumentalisierung der Justiz und erzwungenen Militärdienst.

Sechs Zeugen waren zu den verschiedenen Themen geladen. Sie alle zeigten sich frustriert und klagten an, dass die Täter bis heute noch nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Es handelte sich dabei um Betroffene oder Verwandte von Betroffenen, wie etwa die Mutter von Khaled Ben Nejma, der während der Tage des Umsturzes angeschossen wurde. Sie sagte bei der Anhörung: „Derjenige, der auf meinen Sohn geschossen hat, bekam eine Beförderung und arbeitet immer noch. (…) Mein Sohn ist derweil wie ein Vogel in seinem Käfig und wartet auf Erleichterung“. Bei den Zeugenberichten handelt es sich um schockierende Einzelheiten aus der Praxis des alten Regimes. Von alltäglicher Folter durch Gefängniswärter, von Vergewaltigungen, Mord und Misshandlungen sowie von Eingriffen in die intimsten Privatsphäre ist die Rede. Bei der letzten Sitzung mussten Zuschauer den Raum zwischendurch verlassen, weil das Zuhören schwer zu ertragen war.

Einzigartig in der arabischen Welt

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Menschenrechtsaktivistin auf Demonstration gegen Folter in Tunis

Der Umstand jedoch, dass in tunesischen Gefängnissen gefoltert wird und die Täter straflos davonkommen, ist auch heute noch traurige Realität. Amnesty International (AI) spricht von Misshandlungen und ungeklärten Todesfällen, die in den letzten sechs Jahre stattgefunden haben, also schon nachdem Ben Ali gestürzt worden war. Laut AI wird noch immer der Vorwurf des Terrorismus zur Legitimation genutzt, Häftlinge zu foltern und ihnen ihre Rechte zu verweigern.

Gleichzeitig ist eine derartige Kommission in der arabischen Welt einzigartig. Sie orientiert sich am Beispiel Südafrikas mit seiner „Truth and Reconciliation Commission of South Africa“ (TRCSA), die die Verbrechen der Apartheidszeit aufklären sollte. Generell ist es eine Seltenheit, dass eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit stattfindet und nicht nur deren Verdrängung, wie es bei unzähligen Beispielen der Fall ist: von Indonesien bis zum Irak, wo es zwar Versuche gab, eine ähnliche Kommission nach dem Sturz Saddam Husseins ins Leben zu rufen, die allerdings noch keine Erfolge verbuchen konnte.

Die nächste Sitzung der „Kommission für Wahrheit und Würde“ wird im März stattfinden, allerdings ohne Fernsehübertragung. Die Auswirkungen der Anhörungen auf die tunesische Gesellschaft sind noch nicht abzuschätzen. Während die Entschädigung der Opfer ein rein finanzielles Problem ist, ist die juristische Verfolgung der Täter eine kompliziertere Angelegenheit. Zunächst muss sichergestellt werden, dass Personen, die etwa gegen ihre Vorgesetzten aussagen möchten, vor Einschüchterungen und Entlassungen geschützt sind. „Solange wir sie nicht schützen können, können wir sie auch nicht öffentlich exponieren“, so die Vorsitzende der Kommission, Ben Sedrine. Auch Amna Guellali, Direktor von Human Rights Watch, stellte klar: „Dies ist nur ein kleiner Teil eines langen Prozesses von Heilung und Reformierung – eines Proszesse der Vergangenheitsbewältigung.  Bisher hatte wir nur fünf Anhörungen und das ist lediglich ein kleiner Teil der Arbeit der Kommission und des Transformationsprozesses.“

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