Niederlage für die Süddeutsche Zeitung

Von Alex Feuerherdt

Der Deutsche Presserat hat einen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung beanstandet und dem Blatt einen sogenannten Hinweis erteilt. Einer ihrer Reporter hatte in einem Kommentar behauptet, Zehntausende Israelis seien vor der Politik ihres Premierministers nach Deutschland geflohen. Einer presserechtlichen Beschwerde dagegen wurde nun stattgegeben.

Am 11. September 2014, wenige Tage nach dem Ende des letzten Gaza-Krieges, erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Gastbeitrag von David Ranan. Unter der Überschrift „Das Schweigen der Diaspora“ beschäftigte sich der israelische Autor mit der Frage, warum sich „deutsche Juden schwer mit Kritik an Israel tun“. In seinen Augen verteidigen „Diaspora-Juden israelische Politik und Handlungen auch gegen ihre eigene Überzeugung automatisch“, dabei wäre „sowohl Israel wie auch dem jüdischen Leben in Deutschland mehr gedient“, wenn man „differenzierter“ agierte. Denn in Israel trieben „Rechtsradikale, ob orthodox oder säkular“, das Land „auf den Straßen oder im Parlament inzwischen in einen Zustand, der sich beängstigend dem einer faschistischen Gesellschaft nähert“. Eine bodenlose, absurde Dämonisierung, die Henryk M. Broder treffend mit den Worten kommentierte: „Es war das übliche Geseire eines ‚kritischen Israeli‘, für das die SZ immer ein paar Bäumchen zu opfern bereit ist.“

Drei Tage später ließ das Blatt einen Kommentar seines Reporters Thorsten Schmitz folgen. Der fragte darin anlässlich einer Kundgebung des Zentralrats der Juden in Berlin: „Warum müssen Juden in Deutschland eine Demonstration organisieren dagegen, dass man sie ablehnt, überfällt, hasst? Warum kommt nicht die Arbeiterwohlfahrt auf die Idee für so eine Demonstration?“ Seine Antwort: „Es hat Tradition in Deutschland, dass Juden und Israel stets in einen Topf geworfen werden. Hier lebende Juden werden als Repräsentanten des Netanjahu-Israel betrachtet. Dabei gibt es Zehntausende Israelis, die vor der Politik des israelischen Premierministers nach Deutschland geflohen sind.“ Denkt man die beiden kurz nacheinander in der Süddeutschen erschienenen Texte zusammen, ergibt sich folgende Aussage: Die deutschen Juden sind Parteigänger der „rechtsradikalen“ israelischen Regierung, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass niemand für sie demonstrieren will. Sie sollten sich besser ein Beispiel an den israelischen „Flüchtlingen“ nehmen, denn die klagen nicht über Antisemitismus, sondern über Netanjahu.

Eine Behauptung ohne jede Grundlage

Nun ist diese selbstgerechte Einteilung in „böse rechte“ und „gute linke“ Juden nichts, was man in „israelkritischen“ Kreisen – die in der Münchner Zeitung ein überregionales Sprachrohr haben – nicht ohnehin seit Jahren kennt. Neu war dagegen die Behauptung, dass die Regierung des jüdischen Staates eine große Zahl israelischer Bürger in die Flucht getrieben hat – und das auch noch ausgerechnet nach Deutschland. Henryk M. Broder malte sich das Szenario aus: „Die MS ‚Exodus‘ bringt die Flüchtlinge von Israel nach Cuxhaven, von dort laufen sie zu Fuß weiter, in eine der 24 Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, wo sie ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge beantragen. Als Begründung genügt ein Satz: ‚Flucht aus Netanjahu-Israel.‘ In strittigen Fällen wird ein SZ-Redakteur als Sachverständiger dazu geholt, der gerne bestätigt, dass Israel in einen Zustand treibt, der sich beängstigend dem einer faschistischen Gesellschaft nähert. Bei der UNRWA wird bereits überlegt, eine eigene Agentur zur Versorgung der politischen Flüchtlinge aus Israel im deutschen Exil zu gründen.“

Die Initiative Honestly Concerned wollte es nicht bei einem kritischen Kommentar belassen und erhob Beschwerde beim Deutschen Presserat. Sie argumentierte, die Aussage, es gebe Zehntausende Israelis, die vor der Politik des israelischen Premierministers nach Deutschland geflohen sind, entbehre jeglicher Grundlage. Tatsächlich kann Schmitz‘ Behauptung schon zahlenmäßig nicht aufgehen: Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hielten sich in den vergangenen Jahren nie mehr als 11.655 „Personen mit israelischer Staatsangehörigkeit“ in Deutschland auf. Selbst wenn man diejenigen Israelis hinzurechnet, die über einen weiteren Pass verfügen – etwa einen französischen, britischen oder amerikanischen – und damit in die Bundesrepublik eingereist sind, wird man nicht auf Zehntausende kommen.

Politisch motivierte Wunschvorstellung

Mit dem Begriff „Flucht“ wiederum mögen unterschiedliche Konnotationen verbunden sein. Doch wer ihn in einen Kontext mit politischen Beweggründen stellt, evoziert damit Bilder von Asyl und Exil und unterstellt dem Staat, aus dem die Flüchtlinge kommen, eine undemokratische Verfasstheit, mit der eine rigide Verfolgungs- und Bestrafungspraxis einhergeht, die auf die physische und psychische Unversehrtheit politisch Andersdenkender zielt. Das ist in Bezug auf Israel offensichtlicher Unsinn, und so liegt die Zahl der von Israelis in Deutschland gestellten Asylanträge dann auch jedes Jahr lediglich im niedrigen zweistelligen Bereich. Positiv beschieden wurde davon bislang kein einziger. Doch selbst wenn man das Wort „geflohen“ weiter fasst, ist die These von Thorsten Schmitz unhaltbar. Denn um auch nur annähernd Berechtigung beanspruchen zu können, müssten die Motivlage und die politische Gesinnung der nach Deutschland eingereisten Israelis identisch sein. Dass das nicht der Fall ist, liegt auf der Hand.

Schmitz‘ Behauptung entsprang also ausschließlich seiner Fantasie, sie war eine politisch motivierte Wunschvorstellung. Der Presserat gab der Beschwerde von Honestly Concerned erstinstanzlich dann auch statt und sprach einen sogenannten Hinweis aus, das ist nach der Rüge und der Missbilligung die drittschwerste Form der Beanstandung. Die Süddeutsche Zeitung widersprach jedoch und erreichte eine Rücknahme der Entscheidung. Honestly Concerned beantragte daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens und bekam nun Recht. In der Entscheidungsbegründung heißt es, die beanstandete Angabe zur Anzahl der Israelis, die nach Deutschland „geflohen“ seien, ver
stoße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht, „weil der Autor die Zahlenangabe nicht belegt bzw. darauf hinweist, dass es sich um eine umstrittene Schätzung handelt“. Auch in einem Meinungsbeitrag sei „die Pflicht zur journalistischen Sorgfalt einzuhalten, wenn Tatsachen zum Beleg der eigenen Bewertung dargestellt werden“. Für den Leser müsse deutlich werden, wie valide die tatsächlichen Angaben sind. Eine solche Einordnung fehle in Schmitz‘ Kommentar.

Schlechte Verliererin

Nicht bemängeln mochte der Presserat hingegen die Darstellung, die Israelis seien vor der Politik Netanjahus „geflohen“. Denn dieser Begriff lasse sich „auch als im übertragenen Sinne verwendet verstehen, also nicht bloß konkret im Sinne des Ausweichens vor einer Lebensgefahr oder vor Gewalt“. Mit der Äußerung werde jedoch auch „eine Mutmaßung über die Motivlage der Israelis angestellt, die sich in Deutschland befinden“. Das sei zwar in einem Meinungsbeitrag grundsätzlich zulässig, allerdings sei dann „umso mehr eine besondere Sorgfalt bei der Angabe von nur geschätzten und umstrittenen Zahlen zu dieser Personengruppe angezeigt“. Der Süddeutschen Zeitung wurde erneut ein Hinweis erteilt.

Im Beitrag von Thorsten Schmitz heißt es nun hinter dem beanstandeten Satz in Klammern lapidar: „Anmerkung der Redaktion: Bei der Zahl handelt es sich um eine umstrittene Schätzung.“ Zu mehr war die Zeitung nicht verpflichtet, und mehr wollte sie zu der Angelegenheit offenkundig auch nicht sagen. Das ist einerseits ihr gutes Recht, weist sie andererseits aber auch als schlechte Verliererin aus und zeigt, wie wenig sie in Bezug auf Israel gewillt ist, auch nur ein Mindestmaß an Fairness einzuhalten. Die absurde Behauptung, die Israelis flöhen ihr Land in Scharen aus politischen Gründen – während immer mehr Juden Europa verlassen, um nach Israel einzuwandern, und in Deutschland lebende Juden nicht mehr sicher sind – ist eine Form der Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates, wie sie auch von der Süddeutschen Zeitung immer wieder betrieben wird. Der Hinweis des Deutschen Presserates wird daran gewiss nichts ändern. Aber Antisemitismus ist auch nicht in erster Linie ein presserechtliches Problem, sondern ein politisches.

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