Ein genialer deutscher Nahostexperte entdeckt den Pluralismus des Islamischen Staates

Was bislang in das Ressort der deutschen Friedensbewegung fiel, kommt mehr und mehr im Mainstream an: die Forderung, der Barbarei des Islamischen Staates mit internationaler Anerkennung zu begegnen, da anders ein Frieden in Syrien nicht zu erreichen sei. So formulierte der ehemalige ORF-Korrespondent Friedrich Orter im ZiB24-Interview am 5. Februar 2016:

„Nur eines muss man ja auch bedenken: Wer immer jetzt bei diesen Friedensverhandlungen mitmischt, einer ist nicht dabei – das ist der IS-Staat. Und solange man mit dem nicht spricht, das wollen weder die Amerikaner noch die Russen, wird es dort überhaupt keine Friedenslösung geben.“

Was für ein Frieden es allerdings sein soll, der mit den Mordbrennern des Islamischen Staates erreicht werden kann, diese Antwort blieb der österreichische Nahostexperte allerdings schuldig.

Doch Orter ist keineswegs der einzige, der die Anerkennung des IS als legitimen Akteur im syrischen Bürgerkrieg fordert und für eine Einbindung der Terrormiliz in den Friedensprozess plädiert. Bereits am 30. Januar hatte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einem Interview mit dem Deutschlandfunk ausgeführt, es sei problematisch, dass nicht Vertreter aller Akteure bei den Syriengesprächen in Genf mit am Verhandlungstisch säßen.

Auf die Frage, ob er damit auch den Islamischen Staat meine, antwortete Kaim:

„Ein dauerhafter Waffenstillstand für Syrien in seiner Gänze wird ohne diese Gruppen nicht erreichbar sein. Und dementsprechend, so gewöhnungsbedürftig die Perspektive aus heutiger Sicht ist: Ich glaube, an einer Form von politischer Auseinandersetzung führt kein Weg vorbei.“

Bereits einen Tag zuvor forderte der Vorsitzende der heute beginnenden Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger dasselbe. Man dürfe sich gegenüber Verhandlungen mit Gruppen wie dem IS nicht verschließen und müsse auch, so Ischinger, „mit den bösen Buben reden“, wenn man Frieden in Syrien erreichen wolle:

„Wer hier den moralischen Finger hebt und sagt, mit solchen Leuten kann man nicht reden, der hat von der Realität machtpolitischer Auseinandersetzungen und von der Realität schwieriger Friedensverhandlungen zur Beendigung eines Bürgerkriegs leider nichts verstanden.“

In einem Kurzinterview von der Debattenplattform Internationale Politik und Gesellschaft auf diese Ausführungen Ischingers angesprochen, erklärte dann Christoph Günther, seines Zeichens der wissenschaftliche Mitarbeiter des Max Planck Instituts für Sozialanthropologie und Lehrbeauftragter am Orientalistikinstitut der Universität Leipzig, vor wenigen Tagen, dass er dem Vorsitzenden der Sicherheitskonferenz zustimme und Verhandlungen mit dem Islamischen Staat für „realistisch“ halte.

Teile des IS hätten legitime Ziele, weswegen nichts gegen ihre Einbindung in den politischen Prozess spreche, ja diese sogar notwendig mache. Das heiße, so Günther,

„dass das gemeinsame Interesse der Einzelteile dieser sozio-politischen Bewegung, nämlich die Veränderung des politischen Status quo in Syrien und im Irak mit dem Ziel der Ablösung der herrschenden Regierungen, in solchen Verhandlungen aufgegriffen werden könnte. (…)

Insofern sich die Verhandlungen lediglich auf einen bestimmten Teil der Bewegung konzentrieren, wäre die Akzeptanz valider politischer, sozialer und ökonomischer Interessen der Verhandlungspartner sowie eine Perspektive für deren tragfähige (Re-)Integration in den politischen Partizipationsprozess ein guter Anfang.“

Als Grundlage seiner Einschätzung, dass eine solche Einbindung von Erfolg gekrönt sein könne, nannte Günther schließlich die Tatsache, dass der „kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich wohl alle regionalen Akteure einigen können, (…) die Beendigung der bewaffneten Konflikte im Irak und in Syrien“ sei. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der russisch-iranisch-syrischen Offensive gegen Aleppo in der letzten Woche – die auch mit der heute in München verkündeten Durchbrechung der „Spirale von Gewalt und Gegengewalt“ (Frank-Walter Steinmeier) keinen Abschluss finden wird – kann man sich angesichts solcher Einschätzungen nur fragen, worin die Expertise des Leipziger Wissenschaftlers denn eigentlich bestehen soll.

Den endgültigen Beweis dafür, dass die Forderung nach Anerkennung des Islamischen Staates untrennbar damit verbunden ist, Fakten durch Fiktionen und Wunschvorstellungen zu ersetzen, lieferte Günter aber, als er auf das Ziel einer der anzustrebenden Bemühungen um Integration zu sprechen kam:

„Es erfordert außerdem besondere Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft, die politischen Akteure zu Kompromissen anzuregen, die auf ein friedvolles Miteinander und pluralistische Gesellschaften ausgerichtet sind.“

Der Islamische Staat als Exponent einer friedvollen und pluralistischen Gesellschaft… Wie lange man wohl über „neuzeitliche Reformbewegungen und politische Ideen in der arabisch-islamischen Welt“ geforscht haben muss, um auf solch einen Geistesblitz zu kommen?

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