„Dass die Türkei jemals eine Vorbildfunktion hatte, halte ich für eine Übertreibung und einen schlechten Euphemismus für ein Land, das mehr oder weniger heimlich auf dem Weg zu einem mehrheitlichen Islamofaschismus war. Die Türkei war nie ganz europäisch oder ganz arabisch. Wenn wir bei der Metapher bleiben, muss das Land, um als Brücke zu fungieren, zunächst auf beiden Seiten fest verankert sein. Das war bei der Türkei nicht der Fall. Es hat sich eigentlich nichts verändert seit dieser Fehleinschätzung in einigen westlichen Staaten. Die Türkei ist, was sie war, und das ist, was sie heute ist: Keine hübsche Brücke, sondern eine mehrheitlich gewählte Autokratie. (…)
[Das Präsidialsystem] wäre schlicht eine Autokratie. Aber was wäre der Unterschied im Vergleich zur jetzigen Situation? Momentan ist diese Autokratie verfassungswidrig. Erdoğan verletzt die Verfassung, indem er seine Macht und Autorität missbraucht. Es gibt keine unabhängige Judikative, die ihn dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Er will seine Position mit Hilfe des Referendums legitimieren. Sollten die Befürworter gewinnen, wird Erdogan von einem de-facto-Autokraten zu einem de-jure-Autokraten werden. (…) Er ist total autoritär, aber eben vorgeblich auf der Basis des »Volkswillens«. Er ist ein erfolgreicher Populist, dessen Produkt sich sehr gut auf dem Marktplatz der politischen Ideen verkauft. Er ist ein türkischer Putin, Modi, Duterte, Correa, Chávez – starke Männer, die ähnliche Wege gegangen sind. Er ist ein islamistischer Populist, weil die Mischung aus Islamismus und Nationalkonservatismus das derzeit erfolgreichste Produkt auf dem türkischen Politikmarkt ist.“ (Interview mit Burak Bekdil: „Erdogan braucht jede Stimme“)