„Erdogan hat in den vergangenen Jahren mehrfach behauptet, die Medien in der Türkei seien freier als jene im Westen, und auch nach dem Putschversuch vom 15. Juli versichern Regierungspolitiker stets, die Unabhängigkeit journalistischer Berichterstattung sei ihnen ein wichtiges Gut, das sie schützen und bewahren wollten. Besonders gut lassen sich unabhängige Journalisten demnach offenbar im Gefängnis schützen und bewahren. Laut der Internetseite ‚Turkey Purge‘, deren Betreiber sich zur Aufgabe gemacht haben, ‚die umfassende Hexenjagd in der Türkei zu beobachten‘, befanden sich am Freitag 119 Reporter, Herausgeber und Kolumnisten in Haft, 50 von ihnen unter dem Vorwurf, an dem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Nun ist ‚Turkey Purge‘ die anonym betriebene Internetseite einer ‚kleinen Gruppe junger Journalisten‘, die nicht in der Türkei leben. Die Seite könnte also auch von der Gülen-Bewegung betrieben werden, weshalb sie als Quelle nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Doch die Wirklichkeit in der Türkei liefert seit dem 15. Juli Woche für Woche derart viele neue Fälle von Festnahmen und Verhören anerkannter Publizisten und Journalisten, dass eine Warnung, welche die Menschenrechtsorganisation ‚Human Rights Watch‘ schon Ende Juli veröffentlichte, mehr denn je gilt: ‚Der Notstand wird benutzt, um das Recht auf freie Meinungsäußerung über alle berechtigten Ziele zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung hinaus zu verweigern.‘ (…)
Die Organisation ‚Reporter ohne Grenzen‘ hat am Montag einen Bericht veröffentlicht, in dem die bisher unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands gegen Medienhäuser und Journalisten vorgenommenen Schritte beschrieben werden. ‚Statt dem Beispiel des türkischen Volkes zu folgen, das sich den Putschisten am 15. Juli entgegenstellte und die Demokratie verteidigte, hat die Regierung Erdogan eine immer ausgedehntere Offensive gegen die Freiheit der Information in der Türkei verfolgt‘, fasst einer der Autoren unter Hinweis auf mehr als 100 geschlossene Medienhäuser die Studie zusammen. Tatsächlich wurden bereits mit der Verordnung Nummer 668 vom 27. Juli unter anderem 45 Zeitungen, 15 Zeitschriften, 16 Fernsehstationen, 23 Radiosender und drei Nachrichtenagenturen verboten. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft zudem in einer ersten Verhaftungswelle die Festnahme von 89 Journalisten angeordnet. Emma Sinclair-Webb, die seit vielen Jahren ‚Human Rights Watch‘ in Istanbul vertritt, kritisiert vor allem den ‚völligen Mangel an Beweisen‘ für die den verhafteten Zivilisten zur Last gelegte Beteiligung an dem Putschversuch der Armee.“
(Michael Martens: „Erdogan stellt türkische Presse unter Generalverdacht“)