Der Westen muss den anti-westlichen Kurs der Türkei ernst nehmen

Der Westen muss den anti-westlichen Kurs der Türkei ernst nehmen„Die Aussetzung der VISA-Erteilung beruht auf einer jüngst entstandenen falschen Denkweise über die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei. Diese Beziehungen sind gegenwärtig von einem strategischen Widerspruch geprägt: Die Vereinigten Staaten halten die Türkei weiterhin für einen entscheidenden Partner bei der Sicherung ihrer Interessen in Nahen Osten, insbesondere in Syrien und dem Irak nach der Niederlage des Islamischen Staats. Andererseits ist Ankara ein zunehmends schwieriger Partner geworden. Ähnlich wie viele Türkeiwissenschaftler ist Washington zu dem Schluss gelangt, dass dieser NATO-Partner bestenfalls ein unzuverlässiger Verbündeter ist, und hat sich daher auf eine ‚transaktionale’ Herangehensweise verlegt. Diese pragmatische Strategie basiert statt auf gemeinsamen Werten auf gemeinsamen Interessen und Tauschgeschäften und zielt auf die Vereinbarung kooperativer Deals, in denen beide Parteien das bekommen, was sie jeweils wollen.

Allerdings verleitet diese Herangehensweise die politischen Entscheidungsträger dazu, das Regime in Ankara misszuverstehen und zu unterschätzen. US-amerikanische Entscheidungsträger begehen einen der geläufigsten Fehler, auf den in der psychologischen Literatur über außenpolitische Entscheidungsfindungsprozesse hingewiesen wird: Sie ‚spiegeln’ ihr Gegenüber, d.h. sie gehen davon aus, dass, wenn Washington auf die Vereinbarung von Deals aus ist, die Türkei genauso an die Beziehung zu den USA herangeht. Dieser Logik zufolge muss es sich beim Vorgehen der Türkei irgendwie um einen Schachzug handeln. Wenn sie amerikanische Bürger und amerikanisches Personals verhaftet, nimmt sie demnach ‚Geiseln’, die sie gegen irgendetwas austauschen will. (…) Auf den ersten Blick scheint der von Beobachtern in jüngster Zeit genutzte Begriff ‚Geiseldiplomatie’ ganz gut auf die Dynamik der türkischen Beziehungen zum Westen zu passen. Mit der Festnahme amerikanischer und europäischer Bürger und Konsularbeamter sicher sich Erdoğan jedoch nicht nur einen Trumpf für einen gegenseitigen Gefangenenaustausch. Einer der Autoren dieses Texts hat unlängst bei einer Diskussion über dieses Thema argumentiert, dass Erdoğans Anliegen viel weiter reicht. Das muss Washington begreifen. (…)

Der Westen muss den anti-westlichen Kurs der Türkei ernst nehmenErdoğans antiwestliche Einstellung ist ja nichts Neues. Sieht man vom freundlichen Austausch mit Präsident Donald Trump und dem Streben nach EU-Mitgliedschaft ab, stammen der türkische Machthaber und seine Partei aus einer der antiwestlichsten Strömungen des politischen Islam. Zudem ist die osmanisch-islamistische Identität der AKP, die sich in ihrer inzwischen abgelösten Doktrin der ‚strategischen Tiefe’ zeigte, auf eine neue Ordnung im Nahen Osten gerichtet. Der osmanische Islamismus stellt eine von mehreren konkurrierenden Auffassungen der türkischen Identität dar. Ihr zufolge steht der Türkei aufgrund ihrer imperialen Vergangenheit und als ehemaliger Sitz des Kalifats und des osmanischen Sultanats die Rolle einer großen Regionalmacht zu. (…)

Erdoğan Stärke beruht nicht nur auf seiner Ideologie und Rhetorik, sondern auch darauf, dass man ihm allerhand durchgehen lässt. Seine Vision einer nachwestlichen ‚neuen Türkei’ ist innenpolitisch so überzeugend, weil sie sich nicht nur zu verwirklichen, sondern sich auch strategisch bezahlt zu machen scheint. Unter seiner Führung, so würde Erdoğan behaupten, ist die Türkei eine ernstzunehmende Regionalmacht geworden. Sie bietet dem Westen die Stirn, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. In Syrien stellt sie sich gegen Tyrannen wie den Iran, Russland und Syrien und zwingt diese dann Erdoğan zufolge an den Verhandlungstisch. Sie hat die (im Falle der syrischen Opposition) vergessenen und (im Falle Katars) zu Unrecht verleumdeten Parteien in der Region unterstützt und stellt sich allein terroristischen Bedrohungen (wie der PKK und der [angeblichen gülenistischen Terrororganisation] FETO) entgegen. Dass er dem Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten lächelnd die Hand schütteln und sich von diesem loben lassen kann, nur um im nächsten Augenblick die amerikanischen Interessen zu untergraben, demonstriert nachdrücklich die Macht, über die Erdoğan verfügt. Kurzum, Erdoğan kann ohne große Übertreibung und Täuschung behaupten, dass die Türkei ohne die Vereinigten Staaten und Europa stärker ist, als sie es mit ihnen je war. (…) Erdoğan nimmt keine Geiseln, er bricht die Brücken hinter sich ab. Man kann mit ihm keine Deals vereinbaren. Es ist an der Zeit, dass Washington einen entschlossenen Kurs gegen Erdoğan fährt.“ (Lisel Hintz and Blaise Misztal: „Hitting Erdoğan Where It Hurts, Not Where It Helps“)

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