„Alles begann am 23. April, als 1.200 Demonstranten aus dem südtunesischen Gouvernement Tataouine einen Sitzstreik auf den größten Ölfeldern Tunesiens in der Sahara veranstalteten. Der Funke des zivilen Ungehorsams sprang auf die Stadt Tataouine über, wo Männer, Frauen und arbeitslose junge Leute die Demonstranten in der 120 Kilometer weiter südlich gelegenen Region El Kamour unterstützten. Die Region grenzt an ein Militärgebiet und ist Standort internationaler Öl- und Gasunternehmen. So sind dort u. a. die österreichische OMV und das kanadische Unternehmen Winstar vertreten. Die strategische Wahl von El Kamour spiegelt die tiefe Verbitterung einer Generation marginalisierter Tunesier in dieser Region wider. Dass es die Zentralregierung versäumt hat, den Wohlstand aus den tunesischen Rohstoffvorkommen fair zu verteilen, führt seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 zu ständigen lokalen Unruhen. (…)
Soziale Proteste zur Durchsetzung von Veränderungen sind seit 2011 das Mittel der tunesischen Zivilgesellschaft. Doch seit den Wahlen 2014 und der ‚Vernunftehe‘ zwischen der islamistischen Partei Ennahdha und der säkularen Sammlungspartei Nidaa Tounes kehrt der Autoritarismus auf Staatsebene schleichend zurück. So brachte diese Koalition 2015 den kontroversen Gesetzesentwurf zur ‚wirtschaftlichen Aussöhnung‘ in das tunesische Parlament ein, der später ergänzt wurde, damit die Ratifizierung überhaupt erfolgen konnte. Diese Gesetzesinitiative erregte in der Öffentlichkeit großen Unmut, die darin den Versuch der politischen Eliten sah, Korruption zu normalisieren. Die verarmten Regionen im Hinterland sind mittlerweile Schauplatz zahlreicher Proteste – vom Widerstand gegen die Schließung der Gafsa-Minen bis zum Kampf der Bauern in der Oase Jemna um Wasser- und Bodenrechte. Es ist kein Zufall, dass die Demonstranten von El Kamour dem wegweisenden Beispiel von Jemna bei ihrem Versuch folgen, sich gut zu organisieren, weniger zu politisieren und sich nicht von Parteien einspannen zu lassen. Die Reaktion der Regierung, die es nach eigenen Worten ablehnt, sich ‚von Saboteuren erpressen zu lassen, die der Wirtschaft schaden und Chaos verbreiten wollen‘, machte eine stärkere Radikalisierung allerdings unumgänglich.“ (Houda Mzioudet: „Tunesiens Rebellion der Entrechteten“)